Kapitel 2: Sandmann

Der Druck war enorm. Es knackte in den Ohren, die Türen öffneten sich, und wie zwei Models auf dem Laufsteg  stolzierten die beiden jungen Frauen rechts den Gang herunter und folgten dem Hinweis „Plan B“.

Mond, der dieses Schild noch nie gesehen hatte, stutzte kurz, ging den bekannten Weg nach links entlang und stand nun direkt vor dem Vorzimmer der Geschäftsführung. Eigentlich wollte er noch kurz auf der Dachterrasse eine Zigarette rauchen, es war erst fünf vor zwölf, doch die Schachtel war leer. Mond steckte sie genervt wieder in seine Tasche und trat ein.

Steffi Neumann, eine aufgebrezelte und piekfein angezogene Sekretärin, saß hinter ihrem Schreibtisch, hatte den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und sprach Anteilnahme heuchelnd mit einer Anruferin, die sich offenbar über irgendeine Überschrift aufregte, irgendetwas mit Sex und Blähungen. Sie winkte Mond hektisch mit der linken Hand zu sich. Sie zog mit der rechten Hand einen Kaugummi aus ihrer Tasche, rümpfte ihre kleine Stupsnase und deckte kurz den Hörer zu. „Mannomann, hast du wieder eine Fahne! Aber tu’ mir einen Gefallen. Nimm dich zusammen“, zischte sie und reichte Mond den Kaugummi. „Ich will nicht schon wieder den Notarzt rufen. Egal, was dir da drinnen gleich passiert. Versprochen? Dann kannst du jetzt reingehen.“

Mond war perplex. Was sollte ihm da drinnen schon passieren? Dennoch machte ihm die Warnung Angst. Schon wieder einen Notarzt rufen? Offenbar waren Kollegen vor ihm zusammengeklappt. Klammer hatte sich ihren Ruf als Menschenschinderin und Cholerikerin hart erarbeitet. Keiner hielt sie lange aus. Und bis ein Sanitäter im Verlag, im Fahrstuhl und hier oben war…

Nein, das würde ihm nicht passieren. Auch wenn ihm der Weg zur offenen Tür des Chefbüros – oder Chefinbüros, wie es jetzt hieß – noch nie so lang vorgekommen war und er das Gefühl hatte, er würde gleich eine Stierkampfarena betreten, wo Reiter mit Lanzen und ein Torero mit tödlicher Klinge auf ihn warteten: Er würde auch diesen Kampf überstehen.

Denn – es passierte zunächst gar nichts. Es war totenstill und dank einer dröhnenden Klimaanlage eiskalt in dem Büro, das einen traumhaften Blick bot über die Stadt und auf den Dom, hinter dem der Rhein glitzerte. Doch Klammer bekam davon gar nichts mit. Sie schaute nicht raus, sie schaute nicht hoch, sie schaute Mond noch nicht einmal an. Das Abziehbild einer kaltherzigen Top-Managerin blieb regungslos hinter dem gewaltigen Schreibtisch sitzen, auf dem neben einem Monitor, einer kabellosen Tastatur und einem Handy nichts lag, was irgendwie nach Arbeit aussah.

„Mond ich mache es kurz. Sie waren mal unser bester Mann“, begann sie in einem eisigen Ton, löste den Blick vom Monitor und fixierte ihn nun durch ihre Hornbrille. „Vielleicht auch mal unser liebster. Auf jeden Fall unser… teuerster… Journalist.“ Klammer verschränkte die Arme und ließ ihre Smartwatch aufleuchten. „Bis heute.“ Mond wurde schlecht. Er rang nach Luft und Fassung.

„Sie wissen ja: Die digitale Transformation ist nicht aufzuhalten. Dazu diese steigenden Rohstoffpreise, die Wirtschaftskrise, Papierknappheit, fallende Auflagen bei allen Zeitungen rund um die Welt…“, führte Klammer weiter aus.

Mond unterbrach sie direkt. „Wollten Sie es nicht kurz machen? Ich werde es schon überleben“, sagte er und hasste sich für den fast Mitleid heischenden Tonfall, der aus seinem Kaugummi-Mund kam.

„Überleben? Mond, es ist wie ein Naturgesetz. Es ist einfach der Lauf der Zeit“, sagte Klammer und faltete ihre Hände. „Es ist wie … bei den Dinosauriern. Sie sind so gesehen ein Dino, Mond. Sie sterben aus.“

„Das kann schon sein. Aber nicht heute, Frau Klammer. Nicht heute.“ Mond ballte unbemerkt seine Fäuste. Das war mal ein Konter.

„Mond, verstehen Sie das nicht? Die alten schwerfälligen… Kreaturen… verschwanden, also mussten verschwinden, um neuen wunderbaren Geschöpfen Platz zu machen.“

Da platzte es aus Mond heraus: „Wunderbare Geschöpfe? Sie meinen diese verpickelten Copy-and-Paste-Pappnasen? Die sich freuen, wenn sie durch Instagram wischen? Und wenn wie neulich der wackelnde Hintern von Heidi Klum 250.000 Klicks bringt?“

Klammers professionell trainiertes Minenspiel zeigte plötzlich eine Regung. „Hat Heidis Hintern tatsächlich 250.000 gebracht? Das ist gut. Nein, das ist ja super. Das ist ja Spitze für unser Google-Ranking!“

„Ich meine ja nur, dass…“, wollte Mond weitersprechen, doch ein ganz leises von Klammer dahingehauchtes Zischen, das sich anhörte wie eine vorbeifahrende Lok, gepaart mit einem leichten Kopfschütteln, unterbrach Mond und ließ ihn verstummen.

Klammer klickte kurz mit der Maus und schaute aus dem Augenwinkel auf ihren Monitor. „Ihre letzte Geschichte über diesen Skandal bei den Stadtwerken, dieser Klüngel um Posten und Parteien und den Neubau eines Verwaltungsgebäudes…“

„…das hat einiges bewegt!“, merkte Mond nicht ohne Stolz an.

„Uns aber nicht. Das brachte nicht mal 10.000 Klicks!“, blaffte Klammer. „Und dafür hatten Sie drei Wochen lang, ich wiederhole: drei Wochen lang recherchiert!“

„Rekordzeit für so ein Ding, das dank dpa bundesweit Schlagzeilen machte“, sagte Mond überzeugt.

„Mond, kapieren Sie’s nicht? Drei Minuten Aufwand für Heidi und 250.000 Klicks. Drei Wochen für 10.000. Macht’s da bei Ihnen nicht Klick?“ Klammer klopfte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf, als ob sie auf ein Tablet hämmern würde. Und schaute Mond mit großen Augen an.

„Sie kapieren es nicht, oder? Ja, Sie waren Reporter, Journalist. Ein Vertreter der sogenannten… vierten Gewalt“, sagte sie und zog die letzten beiden Worte ironisch in die Länge. „Ja, neben der berühmten Exekutive, Legislative und Judikative sollen die Medien über das, was die Regierung so veranstaltet, informieren und sie ebenso kontrollieren…“

Mond hörte perplex zu, wie Klammer einen kleinen politischen Vortrag starten wollte, und fiel ihr ins Wort.

„Aber das ist doch heutzutage so wichtig wie nie zuvor!“, brach es aus Mond heraus. „Bei dem ganzen Chaos, was da draußen herrscht.“

„Aber Sie vergessen die neue fünfte Gewalt, Mond. Die sozialen Netzwerke. Die zig Millionen User, äh Usenden da draußen“, sagte Klammer und streckte bedeutungsschwer den Arm Richtung Fenster aus. Über Köln hingen dicke graue Wolken. „Wir müssen diese neuen Lesenden zu Wort kommen lassen, ihren Hass, ihre Feindseligkeit, ihren Ekel. Wir müssen sie hegen und pflegen, für sie da sein, sie immer wieder füttern, Tag und Nacht. Ihnen den Spiegel vorhalten, damit sie sich bei uns wiederfinden und uns folgen. Diese anonymen destruktiven Gefühlsausbrüche, ja, ich finde sie auch oft widerwärtig, aber sie bringen uns Klicks, Unmengen an Klicks und damit Geld in die Kasse, Mond. Nicht Ihr Geschreibsel über ein langweiliges Bauvorhaben, das von diesen Hobbypolitikern heute im Rat diskutiert wird und morgen wieder vergessen ist.“

Einige Sekunden der Stille vergingen. Mond hörte nur noch das Rauschen der Klimaanlage.

Klammer hob die Augenbrauen. „Wir brauchen täglich fünf Millionen Klicks, damit der Laden läuft. Also etwa 20 Mal Heidis verdammter, knackiger Hintern. 20 Mal! Ja, es sind neue Zeiten, Mond. Und wer nicht mit der Zeit geht…“

„…der geht mit der Zeit, ich weiß“, zischte Mond genervt und rutschte auf seinem Stuhl immer unruhiger hin und her. „Aber bitte! Bitte tun Sie mir das nicht an. Ich bin Reporter. Ich bin ein Zeitungsmann mit Herz und Blut. Seit mehr als 30 Jahren. Versetzen Sie mich nicht zu diesen Klick-Fritzen! Bitte!“

Mond biss sich auf die Zunge. Hatte er eben wirklich seine Chefin angebettelt und sein Schicksal ganz in ihre Hände gegeben? Jetzt saß er in der Falle. Stumm stand Klammer auf und ging zu einem glänzend schwarzen Aktenschrank hinüber. Darauf stand ein goldgerahmtes Foto, das sie mit Vize-Kanzler Olaf Scholz zeigte.

Klammer öffnete eine Schublade und zog eine Flasche Whiskey und zwei Gläser heraus. Sie drehte sich um und lächelte Mond süffisant an. Klammer stellte die zwei Gläser direkt vor Mond auf den Schreibtisch und schenkte den gold-braunen Schnaps ein. Dabei zitterte und verschüttete Klammer ein paar Spritzer Whiskey, was Mond verwunderte, passte das doch gar nicht zu ihrem eiskalten Pokerface.

Mond stieg der ihm viel zu wohlbekannte Duft in die Nase. Sein Puls stieg an. Er nahm seinen Kaugummi aus dem Mund, steckte ihn in die leere Zigarettenschachtel und war plötzlich hoffnungsvoll.

„Keine Sorge, Mond. Sie werden beim neuen Klick-den-Blick nicht arbeiten. Sie werden damit nichts zu tun haben, mit dieser ganzen modernen Welt“, sagte Kammer, drückte Mond ein Glas in die Hand und stieß mit ihm an. „Sie doch nicht.“

„Nicht?“ Mond trank einen, dann zwei große Schlucke, ja das Glas war schon fast leer, als ihn warme Wellen durchliefen und er unter seiner Stirn ein leichtes Kribbeln fühlte. Erleichtert und entspannt wollte er weitersprechen. „Na, dann ist ja…“

Doch er kam nicht weit. „Nein!“ schrie Klammer und knallte ihr Glas auf den Tisch. „Nein!“, schrie sie noch einmal, nahm Mond sein Glas ab und knallte es ebenfalls auf den Tisch. Dann zischte sie sadistisch leise: „Sie sind entlassen!“ Sie schaute ihn gespielt mitleidsvoll an. „Tut mir leid. Sie sind raus, gefeuert, gekündigt – nennen Sie es, wie Sie’s wollen. Das war’s.“

Mond schossen Schweißperlen auf die Stirn, und kalte Schauer liefen über seinen Rücken. Er fühlte, wie er innerlich zusammensackte. Er hatte in den letzten zehn, fünfzehn Jahren über ungezählte Entlassungen und Stellenstreichungen – oder „Personalanpassungen“, wie man es jetzt nannte – berichtet. Jetzt hatte es ihn selbst erwischt. Wie ekelhaft sich das anfühlte, hatte er niemals ermessen können.

Klammer sagte gefühllos: „Die alte Printredaktion wird komplett aufgelöst. Texte auf Seiten kopieren – das übernimmt jetzt unsere neue Agentur. Junge, ehrgeizige… und…“, Klammer flüsterte mit einem hämischen Lächeln, „und wirklich billige Leute!“

Mond hob die Augenbrauen: „Plan B?“

„Sie haben schon Bekanntschaft gemacht? Ja, diese jungen Bienchen schwirren hier schon überall rum, werden aber überwiegend schön im Homeoffice arbeiten. Spart mir jede Menge Geld für Miete, Mond“, sagte Klammer und wedelte mit dem Zeigefinger durch die Luft. „Und wissen Sie was, Mond? Die Zeitung sieht nicht viel schlechter aus! Zusätzlich werden wir die Auflage ab Januar stark zurückfahren, um Papier- und Vertriebskosten zu sparen. Aber dafür kräftig den Preis erhöhen. Die gedruckte Zeitung zu lesen muss zum Genuss werden. Und Genuss kostet eben.“

„Klingt nach einem genialen Plan“, sagte Mond sarkastisch und merkte, dass er Klammer damit gereizt hatte. Sie fixierte ihn nun mit ihren eiskalten Augen.

„Aber das alles hat Sie nicht mehr zu interessieren. Wir kündigen allen Printkollegen betriebsbedingt, damit alle…“, sie hielt kurz inne und schien diese kleine Kunstpause zu genießen, „damit auch wirklich alle ehemaligen Kolleginnen und Kollegen direkt Anspruch auf ALG 1 haben. Trotz der üppigen Abfindungen, die wir bereit sind, auch in diesen schweren Zeit noch zu zahlen“, sagte Klammer nun in einem melodramatischen Tonfall.

Mond vergrub sein Gesicht in den Händen. Wieder vergingen Sekunden der Stille. Mond hörte das Rauschen der Klimaanlage, das plötzlich laut in seinen Ohren dröhnte.

„Ich weiß, das muss man erst einmal verkraften“, sagte Klammer mit unbewegter Miene. „Am besten ganz allein, ganz für sich. Deshalb gehen Sie jetzt. Bitte!“

Klammer ging zur Tür und riss sie auf. Mond saß immer noch wie erstarrt in seinem Stuhl. „Und wenn Sie klagen wollen – dann kommt Ihr kleines großes Alkoholproblem zur Sprache. Davon weiß hier doch jeder! Oder nicht, Steffi?“

Klammer schaute demonstrativ aus der Tür zu ihrer Sekretärin. Der blieb nichts anderes übrig, was auch Mond nachvollziehen konnte, als die Drohung brav zu bestätigen: „Ja, meine Chefin!“

Als Klammer sah, dass Mond sich keinen Zentimeter aus dem Stuhl bewegt hatte, knallte sie wieder die Tür zu, ging nun fast bedrohlich auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. „Wollen Sie das? Wollen Sie, dass jeder von Ihrer Sucht erfährt? Jeder Kollege, jeder Nachbar, jeder Freund Ihrer Familie? Wohl eher nicht, oder?“

Klammer blickte herablassend auf Mond. „Wie ist, nein, wie war hier Ihr Spitzname: Voll-Mond?“ Sie konnte sich ein fieses Grinsen nicht verkneifen. Um die Demütigung zu vollenden, legte sie Mond nun freundschaftlich eine Hand auf die Schulter und drückte leicht zu. „Ich habe das mit Ihrer Frau gehört. Sie hat Sie verlassen. Samt Ihrer Tochter. Sie haben echt eine Pechsträhne.“ Fast kumpelhaft beugte sie sich jetzt auch noch zu Mond hinab. „Also, mein lieber Mond, was wollen Sie jetzt tun?“

Mond starrte ihr direkt in die Augen. Und plötzlich wusste er nicht, wie ihm geschah, die Worte und Sätze sprudelten aus ihm heraus, mit einer Überzeugung, einem Selbstbewusstsein und einer Betonung, die ihn selbst verblüfften. „Ich bin Zeitungsreporter. Ich werde eine große Geschichte machen. Ich werde eine bedeutende und exklusive Reportage schreiben. Gedruckt auf Papier. In Millionen-Auflage. Ich werde eine Story schreiben, über die die ganze Welt spricht. Die jeder haben will. Die sich jeder kaufen will. Die jeder besitzen will. Die jeder in der Hand halten will. In der Hand. Auf raschelndem, duftendem Zeitungspapier. Und die deshalb online… niemals, niemals erscheinen wird.“

Klammer wich sprachlos zurück und taumelte gegen ihren Schreibtisch. Ein bösartiger, hysterischer Lachanfall schüttelte ihren Körper. Sie hustete und keuchte immer stärker, ihr eigentlich so blasses und blutleeres Gesicht wurde puterrot. Ihre Augen quollen heraus, als sie röchelte: „Mond, Sie… Sie sind ein Träumer, ein Idiot!“

Nach Luft ringend wollte sie noch schnell einen Knopf ihrer seidenen Bluse lösen und sich auf dem Schreibtisch abstützen, als ihre Hand auf dem verschütteten Whiskey abrutschte und sie mit dem Kinn auf die Platte knallte. Ihr Körper, schlagartig ohnmächtig, sank auf den Teppichboden.

Mond schaute einfach nur zu, wie seine Chefin da vor ihm lag. Er stand auf, atmete tief ein und aus und schenkte sich einen letzten Whiskey nach. Er genoss die Stille und blickte über Köln bis zur Hohenzollernbrücke, auf der ein ICE langsam aus Deutz an dem von Liebesschlössern funkelnden Zaun vorbei Richtung Hauptbahnhof rollte.

„Na, wer ist jetzt der Idiot? Was sagen wohl die User über eine sadistische Karrierefrau, die beim Schnaps trinken im Büro zusammengeknackt ist? Ich schätze, nichts Gutes.“ Mond lächelte, trank sein Glas in einem Zug aus und stellte es wieder in den Aktenschrank. Dann öffnete er die Tür und ging entspannt an der Sekretärin vorbei.

„Die Abfindung kommt wie bei allen anderen automatisch mit der nächsten Gehaltszahlung in ein paar Tagen“, sagte Steffi Neumann fast gelangweilt, ohne Mond anzublicken. „Es ist aber nicht allzu viel. Du weißt ja…“

Mond fuhr ihr ins Wort. „Ich weiß, ich weiß. Je älter man ist, desto weniger gibt’s von der Firma, desto kleiner ist die Abfindung. Weil man ja der Rente von Vater Staat immer näher kommt. Ein eiskaltes Spielchen.“

„Bei dir sind das…“ Sie schaute kurz in eine Excel-Tabelle: „Das sind 50…, nein knapp 40.000 Euro. Brutto. Schönes Sümmchen. Aber nicht alles versaufen, Baby!“

Mond schmiss ihr seinen Mitarbeiterausweis auf die Tastatur, trat hinter ihren Schreibtisch und beugte sich zu ihr herab. Er wusste, dass sie nun deutlich seinen Atem spürte, und der Blick in ihren Augen, der zunächst etwas überrumpelt und ängstlich erschien, wich dem Verlangen, ihn zu verschlingen. Monds Kinn, von schwarzen und grauen Bartstoppeln gezeichnet, und sein Mund, vom Whiskey noch feucht, waren nur noch Zentimeter von ihren grell geschminkten Lippen entfernt.

„Wenn du dich mal nützlich machen willst“, hauchte er im scharfen Ton und merkte dabei, wie sie mit ihren Händen schon ihren Rock hochschieben wollte, „dann ruf jetzt schnell einen Krankenwagen. Klammer ist k.o., Baby! Sie hat wohl einen über den Durst getrunken.“

Szenenwechsel

Grelle Laternen erhellten das abendliche Baufeld. Arbeiter stapften durch die Grube, zäunten das Areal ein und legten den Standort des zweiten Krans fest, der hier in wenigen Tagen errichtet werden sollte. Eine blondgelockte Frau mit kantigen Gesichtszügen saß im Cockpit eines Baggers und ließ im Scheinwerferlicht die mächtigen Schaufelzähne immer tiefer ins Erdreich graben, füllte die Schaufel mit Sand, Steinen und alten Wurzeln, fuhr sie hoch und kippte sie über dem geöffneten Container eines zum Abtransport bereitstehenden Lasters aus.

Jürgen, der Brummifahrer, stand auf einer Leiter und schaute in den Container, der immer weiter füllte. Jede Fuhre musste er genau beobachten. „Als ob hier irgendwelche römischen Funde zu erwarten sind“, sagte er genervt und steckte sich eine Zigarette an.

„Nachher noch was vor, Mona?“, schrie er der Baggerfahrerin zu, als diese erneut eine große Fuhre Erde auskippte und für einen Augenblick Ruhe war. „Ist schon gleich 21 Uhr. Schicht im Schacht!“, rief sie. Jürgen kratzte sich an seinem dicken Bauch, der sich weit über die zerschlissene Arbeitshose wölbte und grinste sie an. „Ich dachte, ich könnte hier auch mal etwas… baggern…“

Mona lachte nur laut auf, fuhr den Arm des Baggers aus und schwenkte die Schaufel rasant über den Container Richtung Führerhaus. Nur einen halben Meter vor Jürgens erschrockenem Gesicht stoppte das stählerne Ungetüm. Mona ließ gekonnt die Schaufelzähne bedrohlich auf und ab schnellen. „Unterschätze niemals eine Frau mit einem Bagger“, rief sie ihm zu. „Sonst komme ich nachher bei dir vorbeigerollt und klopfe mal im ersten Stock am Fenster deiner Frau an!“

„Schon gut, schon gut. Mach endlich den Container voll“, fluchte Jürgen und ärgerte sich, dass seine Zigarette durch Monas Imponiergehabe aus seinem Mund in den Container gefallen war. Als er sich über den Rand beugte und den Glimmstängel entdeckte, sah er im fahlen Licht zwei kleine zerrissene Sportschuhe und einen Würfel auf der Sandspitze liegen. „Was zur Hölle ist das denn?“

„Platz da!“, schrie Mona, und Jürgen wich erschrocken zurück. Knapp über seinem Kopf rauschte wieder die gut 300 Kilo schwere Schaufel vorbei und ließ erneut einen großen Haufen Sand in den Container fallen. „So, Schicht im Schacht. Abfahrt und Feierabend!“, rief Mona.

„Da war… da war… da war etwas“, stotterte Jürgen.

„Was auch immer – es kam zu spät“, sagte Mona schnippisch, sprang aus dem Cockpit und schloss den Bagger ab.

Mürrisch kletterte Jürgen in sein Cockpit und startete den dröhnenden Motor. Als er Gas gab und der Laster über die Rampe aus der Grube gerollt kam und auf den Baustellenweg einbog, trat er erschrocken sofort wieder auf die Bremse. Direkt vor seine Motorhaube war irgendetwas.

Jürgen beugte sich vor, um zu sehen, welcher Arbeiter da einfach auf die Fahrspur getreten war. Er wollte schon laut aus dem geöffneten Fenster schreien, als er im Scheinwerferlicht schemenhaft einen kleinen Jungen wahrnahm. Ja, es war ein kleiner Junge, der ihn mit blassem Gesicht und kalten Augen anstarrte.

„Ein Kind, ich hätte fast ein Kind überfahren!“, schrie Jürgen wütend und schlug die Hände vors Gesicht. „Was macht denn nachts ein Kind auf einer Baustelle!“

Als er aussteigen wollte, um den Jungen zu seinen Eltern zu bringen und ihnen einen Vortrag über Aufsichtspflichten zu halten, wie er es schon auf einigen anderen Baustellen getan hatte, war die kleine Gestalt verschwunden. Jürgen hangelte sich aus dem Cockpit und lief vor die Motorhaube. Verwundert schaute er sich schnell in alle Richtungen um, auch unter seinen Brummi. Doch von dem Kind war nichts mehr zu sehen. Kopfschüttelnd kletterte er wieder auf seinen Sitz.

„Mannomann, was war das denn? Was war das denn?“ schrie er über das Lenkrad hinweg und ließ den Motor aufheulen. Jürgen wischte sich den Schweiß von der Stirn. Als er kräftig Gas gab und nach rechts abbiegen wollte und den Kopf drehte, brüllte er laut auf:

Im Schatten des Cockpits starrten ihn zwei funkelnde Augen an. Er erkannte ein altes zerfurchtes Gesicht und lange weiße strohige Haare. Ein ekelhafter Gestank drang in seine Nase. Angst durchzuckte seinen Körper, unheimliche Angst, wie er sie noch nie erlebt hatte. Sein Herz dröhnte, sein Körper zitterte, sein Fuß bebte und verkrampfte und drückte plötzlich mit aller Wucht auf das Gaspedal.

Der Motor heulte ohrenbetäubend auf und zog die Aufmerksamkeit der anderen Bauarbeiter, die am Baucontainer standen, um ihre Helme und Stiefel abzugeben, auf sich. Sie sahen nur noch, wie das stählerne Ungetüm schlingernd davonraste. Leute sprangen schreiend auf der Baustelle zur Seite, andere rannten laut rufend hinterher. Dann bog der Laster plötzlich mit Vollgas schräg nach rechts ab und raste rumpelnd in das Neubaugebiet.

„Was zur Hölle…“ wütete Mond, der vom Lärm und den wild aufblitzenden Lichtern der Baustelle vor seiner Haustür aus einem komatösen Zustand gerissen wurde. Er stapfte in der Dunkelheit durch jede Menge Müll aus alten Zeitungen, Pizzaschachteln, Bierdosen und Whiskyflaschen, die sich um sein Bett gesammelt hatten, zum Fenster. Was er da sah, ließ ihn erstarren:

Ein rumpelnder Kipplaster schoss mit grellen Scheinwerfern und mit einem großen Sandhaufen beladen auf sein Haus zu. Reflexartig schnellten bei Mond die Fäuste zur Abwehr nach oben und sein Blick verschärfte sich, als der Brummi mit einem großen Knall an seiner neuen Garage hängenblieb, dabei eine Wand einriss, das Tor zerfetzte und ein dicker Körper samt zersplitterter Frontscheibe in seinen Vorgarten flog. Im Bruchteil einer Sekunde wurde die Leiche mit haufenweise Sand bedeckt, der durch den Crash wie eine große Welle über das Wrack geschwappt kam.

Ängstlich und schwer atmend schaute Mond durch seine Fäuste auf das unfassbare Chaos. Dann gab es einen Knall, und die Motorhaube fing an, lichterloh zu brennen. Ungläubig sah er nun hinter der Flammenwand ein kleines Männchen, das affenartig auf den Kipplaster kletterte und in den Sand sprang.

Mond traute seinen Augen nicht.

Zuerst buddelte das seltsame Wesen mit seinen kleinen Händen in der Erde, dann immer stärker und immer tiefer. Schließlich war der Kopf verschwunden, dann der Oberkörper, am Ende sah Mond nur noch zappelnde nackte Füße herausragen.

Mond konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, taumelte zurück an seinem Bett vorbei gegen den Schreibtisch, hielt sich an der Flasche Whisky fest, nahm mit zitternden Händen Schluck für Schluck, immer mehr und immer schneller. Als er langsam wieder ans Fenster trat und die Augen öffnete, sah er, wie die Gestalt, von Kopf bis Fuß mit Sand bedeckt, einen kleinen Schuh Richtung Nachthimmel streckte. „Begonnen! Es hat begonnen! Begonnen!“

Das kleine Sandmännchen tanzte im glutroten Licht der Flammen wie von Sinnen durch den Container, während im Hintergrund ein Schwarm von Bauarbeitern aufgeregt durcheinanderlief und nach Hilfe und Feuerwehr rief.

Mond spürte, dass seine Augen müde wurden und brannten, als ob ihm jemand Sand hinein gestreut hätte. Er setzte sich auf sein Bett und fiel nach hinten.

Szenenwechsel

Mond erwachte gegen sieben Uhr früh mit entsetzlichen Kopfschmerzen. Flashbacks von dem lichterloh brennenden Laster und dem gruseligen Sandmännchen schossen durch seinen brummenden Schädel. Mond fragte sich noch, was letzte Nacht passiert oder ob alles nur ein entsetzlicher Alptraum gewesen war, als er erneut vor seinem Haus Lärm von Bauarbeitern hörte. Ohrenbetäubend wüteten Presslufthammer, Laster piepten im Rückwärtsgang, und das alles übertönte das Geschrei eines Mannes, der anderen Arbeitern offenbar Anweisung gab.

„Davay Davay! Semi! Davay Davay! Semi! Semi!“ rief der Mann immer wieder.

Mond, dessen verschollener Vater Russisch gesprochen und ihm nicht viel  mehr hinterlassen hatte als ein paar Brocken dieser wegen Putin immer unbeliebteren Fremdsprache, verstand, dass hier ganz schnell gearbeitet werden sollte, weil die Familien… ja was nun? Sonst irgendetwas mitbekommen? Oder nicht mitbekommen sollten?

Mond hob den Kopf, als ein stechender Schmerz ihn wieder auf das Kissen streckte. Er drehte sich auf die Seite und vergrub seinen Kopf tief in den Federn, um das Gebrüll unter seinem Fenster nicht mehr zu hören.

Er wollte sich gerade gedanklich entspannen, diese kleine Yoga-Übung zumindest einmal wieder versuchen, sich eine ruhige Landschaft mit einem kleinen Fluss vorzustellen, an dem er ganz alleine stehen würde. Vor ihm lagen Wiesen, Wälder und Berge, rechts der Blick in ein unendlich weites Tal. Er wollte nun in Gedanken seine Probleme auf kleine Zettel schreiben und anschließend zerknüllen und in den Fluss werfen. Er wusste: Sobald er sah, dass die Zettel mit seinen Problemen davonschwammen, fühlte er sich leichter und befreit.

Doch das ganze Bild, das er sich in Gedanken mühsam aufgebaut und ausgemalt hatte, implodierte und wurde zu einem Nichts. Sein Handy klingelte und riss ihn aus dem Schlummerland. Ali rief an.

„Hey Peter, Moin Moin! Schon wach? Ich habe mich mal umgehört und alle großen und kleinen Job-Portale durchforstet. Es gibt ja derzeit freie Stellen ohne Ende…“ legte sein Kumpel los, der bei einer Versicherung als Personalreferent arbeitete und sich offenbar jede Menge Gedanken um Monds verpfuschte Karriere machte.

„Ali? Oh Ali. Bei mir geht grade gar nichts…“ stöhnte Mond.

„Hey, trink doch wie üblich gleich mal ein, zwei Konterbier am Morgen, wenn du heute nichts Weltbewegendes tun musst, aber hör mir erst mal zu“, entgegnete sein Kumpel. „Du bist zwar alt und wurdest gefeuert und hast tausend andere Probleme, aber das ist heutzutage kein Beinbruch. Du darfst jetzt nur nicht stehen bleiben oder in ein Loch fallen. Du musst weiter. Immer weiter, wie Olli Kahn vor 20 Jahren sagte.“

„Als Kahn das sagte, war er schon lange Held und Millionär“, säuselte Mond. „Ich habe keinen Job und keine Familie mehr, und einen Arsch voller Schulden!“

Ali seufzte. „Ja, das mit dem teuren Haus, den gestiegenen Kreditzinsen und dem Unterhalt und den horrenden Energiekosten mit allem drum und dran ist echt eine Herausforderung. Und genau deshalb musst du Gas geben und weiterkämpfen.“

Ali setzte noch einen drauf. „Du bist doch keiner, der sich verkriecht!“

Mond atmete schwer und hörte einfach nur zu. Wer war dieser Typ eigentlich? Sein Personal-Trainer? Sein Mental-Coach? Sein Drill-Instructor? Auf jeden Fall spielte er jetzt nebenberuflich Head-Hunter.

„Du bist doch Mond. Der Peter Mond. Der Star-Reporter. Der Großwildjäger! Der Streiter für die Wahrheit und das Gute.“

Mond schüttelte den Kopf. Teils vor Rührung über so viel Anteilnahme, teils vor Verlegenheit.

„Mond, ich habe zwei Termine für dich klargemacht. Bei zwei Online-Portalen, die immer gute Leute suchen… Und mir nebenbei etwas schulden, weil ich denen jede Menge Werbung für unsere Versicherung zuschustern lasse.“

„Bei Online-Portalen? Klickst, äh tickst du noch ganz richtig? Das ist nicht mein Journalismus. Das ist nicht meine Welt!“ Mond wurde langsam sauer.

Doch sein Kumpel ging einfach drüber hinweg. „Mond, du bist leider zu alt und zu teuer, um als Printfritze bei anderen Verlagen unterzukommen. Außerdem stellt eh keiner mehr ein. Eher wird der Betrieb eingestellt, das weißt du doch selbst. Du hast das Pferd geritten, bis es nicht mehr ging.“

Mond kratzte sich am Kopf. Verdammt, sein Rausschmiss war erst ein paar Tage her. Aber Ali hatte Recht. Leider. Er war ein Dino. Und fühlte sich auch so. Schwer, alt und von der neuen Welt vergessen.

„Aber du musst wieder in Schwung, in Arbeit, unter Leute kommen“, fuhr Ali fort. „Montag, das kann sich ja Herr Mond gut merken, 11 Uhr – und und an einem anderen Tag um 12 Uhr. Die Adressen und Ansprechpartner schicke dir per WhatsApp.“

Ali legte einfach auf, so wie es seine Art war. Ein Dankeschön wollte er nicht hören. Die reine Freundschaft zu Mond war für den Mann, der einmal wegen seiner türkischen Herkunft aus der Personalabteilung einer Bank gemobbt werden sollte, genug. Mond berichtete damals über den Fall, der anfänglich als Einzelfall schon Schlagzeilen machte und sich dann durch weitere Betroffene, die sich nach und nach bei ihm meldeten, zu einem bundesweiten Rassismus-Skandal bei der alteingesessenen Privatbank entwickelte.

Als das Gericht Alis Arbeitgeber zu einem spektakulär hohen Schmerzensgeld verdonnerte und verfügte, dass Ali wieder eingestellt werden müsse, etwa bei der zum Konzern gehörenden Versicherung, war klar: Irgendwann wäscht eine Hand mal die andere. Und jetzt war es soweit. Gerade als Mond die Augen schloss und sich etwas beruhigter auf dem Bett ausstreckte, klingelte wieder das Telefon.

„Ja, Ali, ich trinke jetzt gleich mein Konterbier und dann werde ich…“

„Was wirst du? Jetzt schon ein Bier trinken?“ Er kannte diese giftige Stimme. Und das war nicht Ali, wie er dachte. Es war Natja, Seine Frau. Oder Ex-Frau?

„Gott, ich könnte kotzen! Wo bist du? Wie bist du wieder drauf? Was machst du? Hast du es etwa schon wieder vergessen? Es ist bald so weit!“

Weiter mit Kapitel 3 „Big Window“