Das Grollen war schon von weitem zu hören und hallte durch die backsteinernen Abelbauten über der Nordtribüne des Rheinenergie-Stadions. Mond fuhr mit seinem lärmenden Porsche an den Vorwiesen vorbei auf den Gym zu. Am Rückspiegel baumelten zwei kleine weiße Boxhandschuhe des „S.C. Colonia 06“ und eine schwarze VIP-Karte, die per Funksignal automatisch die blinkenden pfahlförmigen Absperrungen herunterfahren ließ und so den Weg frei machte, damit er seinen Sportwagen direkt vor der Stahltür des NRW-Landesleistungszentrums Boxen abstellen konnte. Er schnappte sich seine Louis-Vuitton-Tasche mit den Sportklamotten, schwang sich aus dem Auto und betrat die Sporthalle. Endlich hörte er wieder die Geräuschkulisse, die er seit Ewigkeiten so vermisst hatte.

Das Trommelfeuer der Boxhandschuhe, die reihenweise Sandsäcke bearbeiteten. Die anfeuernden Schreie der Trainer. Das Rumpeln, wenn die Boxer über den federnden Ringboden stampften und gegen ihre Schatten kämpften. Das Knallen der Springseile, die über den mit Schweißtropfen übersäten Linoleumboden zischten. Mond liebte dieses Spektakel. Immer wieder aufs Neue.

Als der Gong ertönte, der die Trainingsmaschinerie alle drei Minuten kurz auf Leerlauf stellte, ging Mond zwischen den schwer atmenden Boxern durch die Halle am Ring vorbei und wollte gerade die Tür zum Keller mit den Umkleideräumen öffnen, als ihn jemand an der Schulter packte.

„Wo willst du denn hin, Sportsfreund?“

Mond drehte sich um und blickte auf einen klobigen, roten Boxhandschuh, der auf seine Brust drückte.

„Kennst Du mich nicht? Ich bin Peter Mond. Der Freund von Hans.“

„Peter? Mond? Sagt mir nichts“, sagte der junge Typ, der vor ihm in Boxerhose und schwarzem „Paffen“-T-Shirt stand.

 „Ich habe früher viel geboxt und wollte mal wieder ein paar Fäuste schwingen. Ich bin seit Jahren hier Mitglied…“

„Aha“, hört er nur diese tiefe Stimme verächtlich sagen. „Aber eher passives Mitglied, oder?“

Mit einer blitzschnellen Bewegung boxte er Mond in den Magen. Der Schlag, bei dem Mond sich reflexartig über seinen Bauch krümmte, ließ fast die Knöpfe seines maßgeschneiderten Hemdes aufplatzen.

„Na, dann schütteln wie mal deinen Speck durch“, sagte er grinsend und öffnete die Tür zum Keller.

Er war wirklich mächtig außer Form geraten, dachte Mond, als er im fahlen Licht nur in Unterhose vor dem Spiegel neben seinem Spind stand und sich betrachtete. Von seinen einst so muskulösen und definierten Armen und Schultern war nicht mehr viel zu sehen. Schlaff hingen sie herab. Zwei lange Speckrollen, handfeste Folgen unzähliger Häppchen-Partys, Kölsch-Runden, Medientreffs und Benefiz-Essen des letzten Jahres und natürlich der guten Küche von seiner Haushälterin Juanita, legten sich wie ein Rettungsring um seine Hüften. Vor vielen Jahren hing mal unter seinem stahlharten Sixpack ein Meistergürtel mit einem goldenen Siegel. Alles vorbei.

Als Mond an sich herabsah und erneut skeptisch in den Spiegel schaute, entdeckte er auch noch ein Doppelkinn, das sich unter seinem akkurat gestutzten Dreitagebart abzeichnete. Er fluchte, schüttelte den Kopf, zog sich schnell seine Sportklamotten an und machte sich auf den Weg hoch in den Gym.

Obwohl er immer glaubte, Boxen sei wie Fahrradfahren, man verlerne es nie, fiel es ihm doch schwer, immer wieder seine Links-Rechts-Kombinationen, Haken und Jabs auf den Sandsack zu feuern. Es war schon lange her, dass ihm drei Minuten so lang vorgekommen waren. Er spürte den brennenden Schmerz in seinen Schultermuskeln und die fehlende Luft in seinen Lungen, als endlich der Gong aus den kleinen Lautsprechern an der Decke ertönte und er sich erschöpft am Sandsack klammerte.

„Mond, ab in den Ring!“

Als er kopfschüttelnd abwinkte, hörte er den Ruf noch lauter und fordernder.

„Mond, in den Ring! Sofort!“

Keuchend kletterte er die kleine Treppe hinaus und durch die Seile hindurch und stand dem jungen Mann gegenüber, der ihn gerade an der Tür zur Umkleide abgefangen hatte.

„Na dann zeig mal, was du drauf hast, Alterchen“, zischte er und hatte die Pratzen in Augenhöhe, als der Gong zu den nächsten drei Minuten ertönte.

Mond riss die Arme hoch und trommelte drauflos. Immer wieder knallten seine Fäuste gekonnt auf die kreisrunden Kissen, die der junge Typ mal parallel über dem Kopf, mal nach vorne oder seitlich in Bauchhöhe hielt.

Dann hielt der Trainer die rechte Pratze hoch, damit er eine harte linke Grade schlagen konnte, doch als Mond loslegte, erinnerte er sich blitzartig an die Deckung und fing mit dem rechten Handschuh kurz vor der Schläfe einen krachenden Schlag ab, den der Typ blitzschnell aus der Bewegung heraus mit der linken Pratze abgefeuert hatte.

„Nicht schlecht. Du bist alt, aber immer noch auf Zack“, brummte der Nachwuchstrainer.

„Habe ich von Hans gelernt. Alles von Hans gelernt“, sagte Mond und tänzelte etwas zurück, um kurz zu verschnaufen.

Da ließ der Typ die Pratzen sinken und senkte den Kopf. „Wir haben alle von Hans gelernt. Aber Hans gibt es hier nicht mehr.“

Mond blickte erschrocken in das gebräunte Gesicht des Trainers. Tränen liefen ihm über seine Wange und bahnten sich ihren Weg durch die Schweißtropfen.

„Hans ist…“

„Was ist mit Hans? Du kannst es mir sagen, wie kennen uns seit Jahren…“, sagte Mond und trat an ihn heran.

„Hans…“

„Doch nicht etwa verunglückt oder tot? Bitte sag nicht…“

„Er kann nicht mehr kommen. Er wird wohl nie wieder boxen. Er ist zu Hause.“

Der Typ schnaufte kurz und hob wieder die Pratzen.

„Aber das ist echt Privatsache. Los, box weiter!“

„Boxen ist das eine. Leben ist das andere“, sagte Mond und legte ihm tröstend einen Handschuh auf die Schulter. Er sah ihm tief in die Augen. „Was ist passiert?“

„Hans und ich sind neulich im Sonnenaufgang eine Runde rund ums Stadion gejoggt, zu den Jahnwiesen, zum Adenauer Weiher und zurück.“

„Ja, kenne ich. Bin ich auch oft mit Hans morgens vor der Arbeit gelaufen. Da ist es schön kühl und friedlich“, nickte Mond.

„Und als wir am Stadionbad vorbeigekommen sind, sahen wir einen Mann oben auf dem Zehner stehen. Es sah unwirklich aus. Er war  ganz allein da oben und schwankte hin und her.“

„Auf dem Zehner? Hat er sich nicht getraut zu springen? Ich bin auch noch nie…“

„Das war vor gut einer Woche, Mond. Das Bad ist immer noch geschlossen, da ist kein Wasser im Becken!“

„Wie bitte?“

Mond war irritiert. Eben noch war er in Gedanken in den Kampf vertieft gewesen, dann hörte er plötzlich, dass sein langjähriger Meistercoach offenbar stark erkrankt war. Und jetzt auch noch eine Geschichte von einem Mann auf dem Sprungturm im geschlossenen Stadionbad nebenan. Aber es stimmte. Die Freibadsaison sollte erst in ein paar Tagen beginnen.

„Nochmal: Da stand ein Mann auf dem Zehner?“, fragte Mond ungläubig.

„Ja“, nickte der Trainer. „Und dann sind wir schnell über die Mauer geklettert und zum Turm gelaufen, um den Kerl da oben runterzuholen.“

„Und dann?“

„Hans war rasend schnell die Leitern hinaufgeklettert. Als er oben war und den Mann ansprach und nach ihm greifen wollte, sah der ihn noch einmal an, sagte etwas und sprang in die Tiefe. Wir konnten nicht glauben, was wir da sahen.“

Mond schrie auf. „Was? Der Mann ist einfach vor euren Augen vom Zehner in das leere Becken gesprungen?“

„Ja. Es war der reinste Horror.“

Mond drehte sich kopfschüttelnd zur Seite.

„Und die Polizei? War die Polizei da?“

„Alle. Ich hatte mein Handy dabei und habe sofort Alarm geschlagen. Polizei, Krankenwagen, Notarzt, jemand von den Kölnbädern – sie waren schnell vor Ort. Aber der Typ war tot.“

„Oh mein Gott!“, sagte Mond fassungslos.

„Es war ein lauter Knall. Ein furchtbares Geräusch. Ein schrecklicher Anblick. Der reinste Horror. Und Hans…“

„Was ist mit Hans?“

Mond drückte mit seinen dicken Handschuhen auf die Schultern des Trainers, als könne er die Worte aus ihm herausschütteln.

„Hans kletterte ganz langsam, fast wie in Zeitlupe vom Turm. Es dauerte ewig, bis er wieder unter war. Aber als er dann endlich unten war, sagte er keinen Ton mehr. Er schaute mich nur mit leeren Augen an und…“

„Und…?“ Mond spürte, wie Angst in ihm aufstieg,

„Und dann fiel er einfach um.“

„Er fiel um? Der große Hans, den nichts umhauen kann?“

„Ja. Er fiel um. Einfach so. Wie nach einem schweren Knockout. Hans muss…“

Seine Stimme erstickte in einem Weinkrampf. Mond nahm ihn in den Arm, obwohl es ihm seltsam vorkam, einen erwachsenen, kräftigen, weinenden Mann ausgerechnet in einem Boxring zu trösten. Aber so war es nun einmal. Boxen ist das eine. Das Leben ist das andere.

„Hans musste noch vor Ort reanimiert werden. Zum Glück hat es geklappt. Der Notarzt und die Rettungskräfte standen ja direkt neben uns. Er lag einige Tage im Koma. Vor zwei Tagen haben wir ihn aus der Uniklinik geholt. Seitdem sitzt er apathisch bei uns zu Hause. Körperlich ist er okay. Aber er kommt einfach nicht mehr auf die Beine.“

„Er sitzt bei euch zu Hause? Bist du…“

Mond war gerührt. Er erinnerte sich daran, dass Hans einen Sohn hatte. Stolz hatte er manchmal von dessen erfolgreichen Amateurkämpfen erzählt. Aber für Hans war es ein No-go, während des Trainings zu quatschen. Training war Training. Jetzt erinnerte sich Mond endlich an seinen Namen.

„Ja. Mein Vater. Hans ist mein Vater.“

„Pit. Du bist Pit! Der Sohn von Hans!“, sagte Mond und drückte ihn an seine Brust. „Ich kenne dich schon, seit du ein kleines Kind warst. Mensch, das tut mir alles verdammt leid.“

Wieder ertönte der Gong, doch Mond merkte, wie in den Gym Ruhe eingekehrt war. Als er sich umblickte, sah er hinter sich ein Dutzend Boxer kreisförmig im Ring stehen. Alle blickten betroffen zu Boden.

„Oh, Mann, Leute. Das ist grauenhaft“, sagte Mond und hörte seine Stimme durch die Boxhalle schallen.

„Ein Selbstmörder springt vom Zehner? Sowas habe ich noch nie gehört…“

„Doch, ist passiert!“, hörte er plötzlich eine Frauenstimme. Es war Carina, die ukrainische Trainerin des Damen-Teams. „Aber dank uns nur einmal.“

„Wie, nur einmal?“, fragte Mond.

„Wir haben schon ein paar Leute abgefangen.“

„Abgefangen?“, fragte Mond ungläubig nach.

„Ja“, sagte Pit und nickte. „Es kommt immer wieder vor, dass wir bei unseren Joggingrunden Menschen sehen, die vorm Stadionbad stehen und da rein wollen.“

„Die sind verzweifelt und traurig“, sagte Carina.

„Hibbelig. Wie Junkies vor dem Drogenmobil.“

„Und, was macht ihr dann?“

„Wir beruhigen sie und schicken sie weg. Aber am nächsten Tag kommen sie manchmal wieder!“, sagte Carina. „Wie Süchtige. Wir sind hilflos.“

„Ja, wir sind absolut hilflos“, sagte einer der Boxer, es war Ujah Trockel. Mond kannte ihn, denn er war früher mal U18-Europameister im Mittelgewicht gewesen. Jetzt bereitete er sich auf Olympia in Paris vor.

„Die Polizei kann nichts machen. Sie konnte noch nicht einmal den Mann identifizieren, der da runtergesprungen ist. Die Polizei ist ebenso hilflos wie wir.“

Trockel schaute deprimiert auf den mit alten Schweiß- und Blutflecken übersäten Boden.

„Und sie macht auch nichts öffentlich. Selbstmörder werden totgeschwiegen.“

„Ja, um niemanden zu veranlassen, dasselbe zu tun. Es ist verdammt heikel“, sagte Mond und knallte die Fäuste gegeneinander. „Aber ich werde euch helfen. Ich werde sehen, was ich herausfinden kann. Ich habe viele Informanten. Auch bei der Polizei.“

Mond spürte, wie sein Herz klopfte und seine Lebensgeister erwachten. Endlich hatte er wieder eine richtige Aufgabe. Er gab sein Wort und die Leute hörten ihm zu. Dieses Gefühl kam ihm vor wie aus einer anderen Zeit.

„Jetzt lasst uns noch ein paar Runden boxen. Dafür sind wir hier, und das wäre auch im Sinne von Hans.“

Pit nickte, wischte sich die Tränen weg und hob wieder die Pratzen. „Für Hans!“

 Wenige Augenblicke später füllten klatschende Schläge und Schreie den Gym. Lauter und heftiger als zuvor.

Jetzt alle Kapitel lesen und „Buch kaufen“