Kapitel 3: Big Window

Mond setzte sich auf die Bettkante und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. ”Oh nein… nein… ich habe es nicht vergessen. Aber ich glaube… ich schaff es nicht. Ich bin hier… beschäftigt. Es tut mir leid, aber…”

„Bist du jetzt wirklich irre? Dass du wegen deiner obskuren Ideen rund um diese beschissene verdammte Elf deinen Job verloren hast, dass du dein halbes Leben versäufst, dass unsere Ehe fast im Eimer ist, weil du …”

Während plötzlich im Dachgeschoss seines Hauses ein seltsames Poltern zu hören war und Mond kurz ablenkte, wollte er das Feuerwerk an Attacken, das typisch für seine impulsive Frau war, schnell unterbrechen. Doch er kam nicht weit.

„Den Job habe ich nicht mehr, weil…”

„Merkst du es nicht? Deine Jagd auf dieses vermeintliche Phänomen, auf dieses Gespenst, verpfuscht dir dein ganzes Leben! Und du hast nur ein Leben! Und eine Tochter!”

Mond duckte sich nach links und rechts, als ob er im Ring wäre und den heranfliegenden Fäusten ausweichen würde. Dann war er am Zug.

„Wie alt wird Melody?”

„Was soll das denn jetzt wieder?”, sagte Natja entrüstet.

„Wie alt wird Melody?”

„Ja, sie wird jetzt elf. Aber das ist doch nur purer Zufall! Du hast Verfolgungswahn. Du bist paranoid! Du bist kein Einstein, kein Indiana Jones. Du bist einfach nur ein alter gefeuerter Reporter mit einer Scheiß-Idee im Kopf!”

Mond ließ auch diese Beleidigungen abperlen und fragte weiter, in ruhigem Ton. „Wie viele Metastasen hatte unser Lieblingsbäcker im Kopf, als er starb? Und wie lange sind wir jetzt verheiratet?”

„Ja, elf. Elf. Elf. Elf verdammte Jahre. Aber lass mich in Ruhe mit dieser Scheiss-Elf! Organisier endlich Melodys Geburtstagsparty. Sie will leider, also sie will, dass du es tust. Mach es! Sonst siehst du uns nie wieder!”

Das unheimliche Poltern, das irgendwo aus dem Dachgeschoss kam, wurde immer lauter und lauter. Mond schaute irritiert Richtung Decke. Was war denn hier bloß los?

„Ach so: Eine Sache mit dieser verdammten Elf kann ich auch beisteuern!”, ergänzte Natja noch schnippisch. „Von deiner Abfindung, die uns überwiesen wurde, wahrscheinlich hast du ja keinen Überblick über unser Konto, Geld hat  ja nie interessiert, bleiben nach Abzug aller Steuern erstmal 22.000 Euro übrig.”

Klar, seine Frau als ehemalige Steuerfachangestellte kannte sich da bestens aus.

„Also 11.000 Euro netto für jeden. Die behalte ich erst mal ein. Wer weiß, wann du wieder zu Geld kommst!” Klick – Natja legte auf.

Mond hielt entsetzt das stumme Smartphone in der Hand. „Elf, elf, elf…” murmelte er immer wieder. Er ging zum Schreibtisch, setzte sich, griff zu seinem dicken schwarzen Notizbuch und wischte mit dem Finger schnell durch die ersten vollgeschriebenen Seiten.

Er nahm ein altes Diktiergerät aus einer Schublade, legte eine kleine Kassette ein und drückte auf Aufnahme. „Die … Magie der Elf”, sprach Mond verheißungsvoll in das Mikro. „Das neue… Das erste Buch von Peter Mond.”

Dann legte er los.

„Okay, als im Juni 2021 die Eishockey-WM startete, stand Deutschland nach elf Jahren mal wieder im Halbfinale.”

Mond stoppte kurz das Band, griff nach der Whisky-Flasche und goss sich einen Schluck ein. Er trank hastig, hustete und röchelte. Dann drückte er wieder auf Aufnahme.

„Die Europameisterschaft vom 11. Juni bis 11. Juli 2021 ist nicht so ungewöhnlich – das passiert in diesem Zeitraum fast alle zwei Jahre. Dass das Turnier an elf Standorten in elf Arenen ausgetragen wird – das aber schon…” Mond blickte wieder auf seine Notizen. „Dass die Italiener elf Spiele in Folge zu Null gewannen, bevor sie dann im Achtelfinalkrimi knapp gegen Österreich siegten – okay. Dass dabei elf Millionen Zuschauer vor der Glotze saßen – alles Zufall?”

Mond blätterte noch mal durch die Seiten, steckte sich eine Zigarette an und ging dann zum Fenster, während er weiter ins Mikro sprach.

„Die Verlegung der Europameisterschaft um ein Jahr auf 2021 wegen Corona kostete München elf Millionen Euro. Dass es aber auch elf Eigentore gab, mehr als bei allen Turnieren zuvor – ist das Zufall? Dass Toni Kroos aus der DFB-Elf zurücktrat – nach elf Jahren im Team – ist das Zufall?

Und dass das letzte Pflichtspiel zwischen England und Deutschland bei der WM 2010 war – ebenfalls im Achtelfinale: Das war elf Jahre her. Ist auch das alles Zufall?”

Mond trank nervös das Glas aus. Wieder kam dieses Poltern aus seinem Dachgeschoss. Es war, als ob ein Kind wild herumrennt, stehen bleibt und wieder losrennt. Auf ein Doppelstockbett klettert – und herabspringt. Unablässig. Mond hielt es nicht mehr aus.

„Ruhe! Ruhe! Ruhe!” schrie er immer wieder. „Was ist das für ein Lärm? Diese verdammten Kinder! Jetzt reicht’s aber…”

Mond sprang in seine Schlappen, eilte die Treppe hinab und öffnete schnell die Haustür, um beim Nachbarn zu klingeln.

„Guten Morgen!”

Mond erschrak, weil ein fremder Mann direkt vor seiner Tür stand und ihn so laut und direkt ansprach. Ein älterer Herr, graumeliert, braungebrannt und mit feinen Gesichtszügen. Er trug ein blütenweißes Hemd, darüber eine Warnweste und einen gelben Helm. Seine piekfeine Anzughose steckte in dreckigen Gummistiefeln.

Der Mann trat auf Mond zu, der ihn perplex anstarrte. „Leonhard mein Name. Louis-Ferdinand Leonhard. Mein lieber Herr Mond, wir möchten uns für das gestrige Malheur hier vor Ihrer Haustür ganz herzlich entschuldigen und haben alles unternommen, um den Zustand Ihrer wunderschönen Immobilie wieder herzustellen.”

Mond verstand auf Anhieb gar nicht, was er da sagte, doch als der Mann Richtung Garage deutete, kamen alle grauenhaften Erinnerungen wieder hoch. Von dem Laster, der letzte Nacht gegen sein Haus gekracht war, von dem Unfall, dem Toten, dem Feuer und dem Chaos. Von alldem war nichts, aber auch gar nichts mehr zu sehen. Es war wie ein Alptraum, der nach und nach verblasste und verschwand, je mehr man wieder zu sich kam.

Jetzt sah Mond wieder klar. Eine nagelneue Garage stand nun neben seinem Haus. Die Hauswände waren bis unters Dach neu gestrichen. Die Zufahrt war mit neuen Steinen verlegt. Ein wunderschöner kleiner Baum, der den vom Lkw umgemähten Ahorn ersetzte, schmückte seinen Vorgarten, drumherum lag feinster Rollrasen.

„Wir hoffen, mit dieser kleinen Aufmerksamkeit den ganzen Trubel zu entschuldigen.”

Bevor Mond etwas sagen konnte, drückte ihm der Mann einen runden Knopf in die Hand, der an einem goldenen Schlüsselanhänger hing. Ein geschwungenes goldenes „L” war dort auf blauem Grund eingefasst.

„Das L steht für Leonhard. Leonhard Immobilien. Louis-Ferdinand Leonhard, das bin ich. Ich bin hier der Bauherr für die ganze Siedlung und alle neuen Felder”, sagte der Mann und lächelte Mond an. „Schauen Sie: Mit diesem Signalknopf können Sie Ihre Garage nun ferngesteuert und ganz automatisch öffnen. Eine echte Sonderausstattung.”

Mond drückte einmal kurz auf den Knopf, und das Tor rollte nach oben. Innen war die Garage sogar sauberer als zuvor bei der offiziellen Übergabe. 

„Wir hoffen, dass wir uns darauf verlassen können, dass die ganze Angelegenheit diskret und unter uns bleibt”, sagte der Mann und nahm Mond kurz den Schlüssel ab. „Auch die Polizei hat den Vorfall als Unfall abgehakt.”

„Den Vorfall als Unfall abgehakt…”, wiederholte Mond und schaute ihn kopfschüttelnd an.

„Ich weiß, wer Sie sind”, sagte Leonhard und drückte den Knopf. „Ein Journalist. Ein Redakteur. Ein Mann der Öffentlichkeit. Der Unfall muss aber dringend unter Verschluss bleiben, es sollte nichts nach außen dringen.”

Leonhard schaute Mond fest in die Augen und ließ dabei das Tor wieder runterrollen, bis es mit einem lauten Knirschen die Garage massiv verschloss. Mit einem Zucken der Augenbrauen untermauerte der Mann, dass es für Mond wohl besser wäre, seinen Mund so verschlossen zu halten wie seine Garage.

„Ja ja, schon gut”, sagte Mond, und trat, um etwas Abstand zu gewinnen, einen Schritt zurück. Er zeigte mit seinem Daumen auf das Grundstück nebenan.

„Hier in der Neubausiedlung ist ja oft ziemlicher Lärm. So wie in meinem Nachbarhaus hier, da toben offenbar die neuen Kinder wie wild durchs Dachgeschoss. Ich dachte, die Häuser hätten einen gegenseitigen Schallschutz. Wurde da vielleicht bei der Gebäudetrennfuge geschlampt? Oder gab’s das auch nur als Sonderausstattung?”

Jetzt habe ich ihn, dachte Mond.

Leonhard sah ihn skeptisch an und dann auf das Haus, auf das Mond eben noch gezeigt hatte. „In diesem Haus wohnt noch niemand, Herr Mond. Das steht noch leer, ist aber bereits besichtigt und reserviert.”

Mond starrte ihn an. Kurz bevor sich der Mann wegdrehte, hielt ihn Mond am Arm fest. „Moment mal. Hier passieren echt verdammt strange Dinge. Haben Sie eine Idee, was hier los ist? Können Sie mir sagen, was hier vorher war? Also, vielleicht, wofür früher die Fläche genutzt wurde, auf der diese Siedlung errichtet wurde? Wer lebte hier?”

„Auf Wiedersehen”, sagte Leonhard und ging davon.

Szenenwechsel

Nein, er konnte diesen Typen einfach nicht leiden. Nicht, dass er ihn irgendwie kennen würde, aber schon seine ganze Art und Weise, wie er ihn mit schlaffer Hand und nervösem Blick wortlos begrüßt hatte und ihn nicht einmal höflich bat, sich zu setzen, sondern nur kurz und hochnäsig zu einem ungemütlichen Hocker vor seinem Schreibtisch nickte, auf den er sich setzen sollte, löste bei Mond eine gewisse aggressive Anspannung aus.

Doch generell ging Fell, so fabulierte sich Mond in seinem Kopf weiter zurecht, anscheinend immer mehr verloren, je höher die Führungspositionen reichten. Entweder die Chefs trugen Glatze, weil sie so alt waren, oder sie trugen Glatze, weil dies genetisch bedingt war. Der Typ hier vor ihm hatte wohl schon immer Glatze getragen. Jedenfalls war sein Gesicht faltenfrei, so faltenfrei wie sein weißes Hemd. Kein Bartstoppel zeigte sich, und dass er überhaupt Augenbrauen hatte, die immer leicht nach oben zuckten, je mehr er mit dem Daumen auf dem Handy nach unten wischte, wunderte Mond. Jetzt blieben die Augenbrauen ein, zwei Sekunden oben, und der Typ machte: „Mhmmm…“

Noch ein „Mhmmm“ brummte hinter seinen schmalen Lippen. Während er weiterwischte, schaute Mond sich in dem kleinen, karg eingerichteten Büro um. Das Fenster zeigte auf das triste Industriegebiet von Ossendorf, am Rande der Stadt. Mit der maroden Linie 5 war er hier rausgekommen, Umsteigebahnhof Appellhofplatz. Da, wo früher Kölns Gerichtsbarkeit thronte und von der Gestapo Todesurteile vollstreckt wurden.

Klar, hier draußen waren die Mieten noch halbwegs erträglich. Der Schreibtisch war wohl von Ikea, jedenfalls kannte Mond diese Tischplatte und die zwei Böcke darunter vom Einkaufsbummel mit seiner Tochter. Am Ende war’s aber dann doch beim Hot-Dog geblieben.

Auf der Spanplatte stand ein Laptop von einer Billigmarke. Hinter dem Typen, der sich als Jan Meier vorgestellt hatte, leuchtete der silberne Schriftzug „iTimes“, an der Wand hing ein Monitor, der wellenförmig die Klickzahlen des Tages präsentierte. Morgens um 6 Uhr, wenn die Stadt erwachte und noch viele vorm Zähneputzen schon mal aufs Handy starrten, gingen die Zugriffe los, steigerten sich bis 9 Uhr, fielen dann etwas ab, um am Mittag, wenn man in der Pause oder beim Essen hungrig auf Neuigkeiten war, stark anzusteigen. Danach gab es wieder einen Abschwung und abends, wohl auf der Couch oder im Bett, nochmal eine Spitze, die dann aber in die Nacht stark abfiel, ins absolute Offline.

Der Online-Rhythmus hatte sich komplett auf den Biorhythmus eingestellt, und nachts waren die Klickzahlen offenbar so gering, dass man auch einfach mal gar nichts online berichten musste. Die Zielgruppe war offline, als offenbar Zeit für Onliner, sich kurz aufs Ohr zu hauen.

„Mhhmmm“ hörte er noch einmal. Und jetzt platzte es aus Mond heraus. Er setzte ebenfalls zu einem langen „Mhhhhmmmm“ an, das er am Ende aber in immer lauteren höheren Tonlagen brummte, so dass sich Monds Brummen anhörte wie ein startender Rennwagen, der ein großes Fragezeichen aus dem Auspuff bläst.

Irritiert, ja fast entsetzt schaute Meier ihn mit aufgerissenen Augen an. Worauf Mond noch einmal nachlegen wollte und ihn ebenfalls mit großen Augen und hochgezogenen Augenbrauen anschaute und lächelnd ein erneutes lautes „Mhmm!“ von sich gab.

Meier hob nur abwehrend, ja arrogant die Hand und machte Mond unmissverständlich klar, einfach die Klappe zu halten. Da hob Mond ebenfalls kurz die Hand, räusperte sich und fragte ganz langsam und extrem deutlich: „Können. Sie. Eigentlich. Auch. Sprechen?“

Als Meier ihn perplex anschaute, setzte Mond hinterher: „Oder soll ich Ihnen lieber eine WhatsApp schicken?“

Meier warf sein Handy auf den Tisch und drehte sich überheblich lächelnd zu Mond.

„Dir! Dir! Wir duzen uns hier alle. Siezen ist out, over, history. Klar, da kommst du her, ich sehe es ja an deinem laaaangen Lebenslauf. Ist mir schon klar, warum die beim Online-Blick dich nicht brauchen. Oder nicht wollen? Aber wenn du willst, kannst du mir jederzeit eine WhatsApp schicken. Oder kennst du schon diese neuartigen SMS?“

Meier grinste kurz, drehte sich wieder von Mond weg und starrte stumm auf sein Handy. Er wischte weiter und las, wischte weiter und las. Plötzlich piepte es und eine SMS von einer unbekannten Nummer poppte auf. Leise las er sich selbst die Nachricht vor. „Mit digitalen Grüßen: Adios, Arschloch!“

Meier kratzte sich am Kopf. „Adios, Arschloch? Mit digitalen Grüßen? Von wem ist die…“ Beenden konnte er den Satz vor Erstaunen nicht mehr.

Mond war verschwunden.

Er wollte nur noch raus, aus dieser neuen, kalten Welt. Ja, kalt war sie. Wie ein Kühlschrank. Mond erinnerte sich bei der Fahrt mit der KVB zurück in die Innenstadt, was ihm mal ein alter, bekannter Chefredakteur gesagt hatte. In einer Zeitung zu schmökern, neugierig umzublättern, das Papier rascheln zu hören, das sei wie eine leckeres Essen, serviert in einem schönen Restaurant. Die Zeitung online zu lesen, wäre wie Essen aus dem Kühlschrank. Kalt.

Szenenwechsel

Als Mond aus der Bahn stieg, merkte er, wie ihm der Magen knurrte. Aber noch mehr plagte ihn dieser entsetzliche Durst. Er musste zurück in den Kosmos, den er kannte. In das gute, alte Refugium der Männerwelt. Seine Stammkneipe „Big Window”.

Und wie das wieder perlte. Er kannte dieses Gefühl, er hatte es schon tausendmal erlebt, doch es war immer wieder neu und aufregend.

Diese Vorfreude, wenn seine Hand das beschlagene Glas umschloss, das eiskalte Kölsch Schluck für Schluck seine Kehle hinunterrann und sein Mund gierig den knisternden Schaum küsste.

Wenn für einen Moment Zeit und Raum verschwanden und er eins wurde mit dem Geschmack und dem Genuss, der immer wieder seine Sinne betörte.

Viel zu schnell war das Glas leer und die kleine Auszeit wieder vorbei. Bis Mario, der Kellner seiner Stammkneipe an der urkölschen Severinstraße, der wegen Frau und Kind immer  Frühschicht hatte, fragte: „Hey Mond, noch’n Bierchen?”

Wie sollte er da nein sagen, hatte Mario doch schon das nächste Glas startklar am Zapfhahn und ein Lächeln auf den Lippen. So gab sich Mond gerne geschlagen und sagte nur kurz: „Klar, aber dann auch noch einen Kurzen. Aber Wodka, kein Kabänes!”

„Klar! Schreiben, was wahr ist und trinken, was klar ist. Ich kenne dich.”

Mario stellte ihm ein neues schäumendes Glas auf den dunklen, abgewetzten Tresen und einen Wodka hinzu, der so vereist war, dass noch kleine Kristalle in ihm herumzuschwimmen schienen, die aber ebenfalls ruckzuck in Monds Mund verschwanden und mit einem neuen Schluck Kölsch, um den kleinen wohligen Stich in der Brust hinunterzuspülen, in die Tiefe stürzten, um beim Aufprall im Magen einen Rückstoß in Monds Kopf auszulösen, der sich schon wieder wohlwollend bemerkbar machte.

Mario griff hinter sein Ohr, um einen kleinen Bleistift zu zücken und auf Monds schon gut eingeweichtem Deckel wieder ein paar neue Striche zu machen. Ein X für den Schnaps, einen Strich für das Kölsch.

X und I – das ist römisch schon wieder elf, dachte Mond, schüttelte den Kopf und sah, wie sich ein Strich und ein X nach dem anderen auf den kleinen, wohlbekannten Rundweg am Rande des Bierdeckels machten.

Mond musste bei diesem Anblick plötzlich grinsen, was auch Mario erstaunte, aber Mond erinnerte sich an Marios früheren Kollegen, der noch ganz neu in seinem Job war, es war sein erster Tag, also die erste Nachtschicht, und der plötzlich, als ein neuer Schwung feuchtfröhlicher Gäste den Laden stürmte und er reihenweise Biere auf den Tresen stellen wollte, keine Deckel mehr hatte.

Er suchte schnell in den Schubladen neben der Kasse nach den Pappen, wühlte alles durch und fand tatsächlich noch einen Stapel.

Er teilte sie im schummerigen Licht an die neuen Gäste aus, mal hier, mal dort tropfte der frischgezapfte Schaum drüber, und gekonnt und voller Elan setzte er jede Menge wilde Striche drauf.

Was der Typ nicht wusste: Auf genau diesen alten Deckeln hatte sein Chef die offenen, teils sehr hohen Zechen von Dutzenden Stammgästen vermerkt und gesammelt. Und so sorgte dieser Typ in nur einer Nacht, nur wenige Stunden im neuen Job, für ein Chaos unter den Gästen, die beim Zahlen plötzlich und unerwartet mal so eben 85 Striche auf ihrem Deckel fanden, sich veräppelt fühlten, den Deckel zerrissen und einfach gingen. Zuerst ein paar, dann fast alle.

„Weißt du noch, dieser Typ, der mit den Deckeln, der hier nur eine Nacht im Dienst war?”, kicherte Mond. „Das war ein Irrer!”

„Ja, das war er. Der damalige Chef verlor durch ihn Hunderte Euro. Aber der Typ hat auch noch richtig eins auf den Deckel bekommen”, schmunzelte Mario, der nun hinter der Theke stand, seine Arme verschränkte und Mond fragend anschaute. „Dat jit et nur bei uns en Kölle! Jetzt lenk mal aber nicht ab: Was ist mit dir los? Welche Sorgen willst du denn heute wieder runterspülen, mein Freund? Du weißt doch: Später ist das Bier weg, der Schnaps weg, das Geld weg. Aber deine Sorgen sind noch da. Wegsaufen kann man die einfach nicht.”

„Wegsaufen wäre gut”, sagte Mond traurig. „Frau weg, Tochter weg, Katze weg, Porsche weg, Job weg. Den machen jetzt ein paar billige Hühner. Zusammen mit Google. Mit Facebook. Und Instagram. Und ich? Bin auch weg.”

„Oh Mann”, sagte Mario kopfschüttelnd und drehte sich wieder Richtung Fass. „Du bist aber aggro drauf. Der Nächste geht aufs Haus.”

„Haus? Auch fast weg. Neubau, pikobello, eigentlich unbezahlbar, und jetzt ist da noch eine fette sechsstellige Summe abzuzahlen”, sagte Mond und schaute in sein Bierglas.

„Und du glaubst es nicht: Da rast nachts ein brennender Baustellen-Lkw fast in meine Bude – und ein Irrer springt dran hoch, in den Container hinein und verbuddelt sich im Sand! Und dann liegt eine Leiche bei mir vor der Tür!”

Mond trank das Glas in einem Zug aus.

Mario schaute ihn ungläubig an. „Was ist das denn für eine irre Geschichte? Hab davon noch nichts gehört. Und ich höre hier ja alles. War das denn irgendwo zu lesen?”

Mond schüttelte den Kopf. „Und dann höre ich immer ein irres Poltern, als wenn ein Kind wie angestochen durch alle Dachgeschosse rennt. Aber im Haus nebenan wohnt gar keiner! Du , weißt du, was ich glaube?”

„Was denn? Was glaubst du denn?” fragte Mario besorgt.

„Ich glaube, ich werde verrückt! Oder es spukt in meiner Bude. Beides scheiße!” Mond setzte wieder das Glas an, aber das war längst leer.

Mario kam mit dem nächsten Bier an und schien es Mond reichen zu wollen, doch bevor Mond zugreifen konnte, hatte Mario es schon am Mund und trank hastig zwei, drei große Schluck.

„Ich sollte zwar nichts trinken, aber das hier ist doch mal echt ein Grund. Einfach bizarr, wenn das alles stimmt, was du erzählst.” Mario wischte sich das Bier von den Lippen und lehnte sich zu Mond über die Theke.

„Vielleicht steht dein Haus ja auf einem alten Indianer-Friedhof oder so? Obwohl, darf man das heute überhaupt noch sagen? Indianer? Ich weiß es nicht. Man weiß ja heute fast nichts mehr. Selbst der Muttertag wird mies gemacht!”

„Auf alle Mütter!”, grölte Mond und hob sein leeres Glas. „Viva Mutter Colonia! Viva Colonia Claudia Ara Agrippinensium! Darauf noch ein Kölsch!”

Mond deutete mit sehnsüchtigem Blick an, dass er gerne noch ein Bier hätte, aber nun wirklich sein aller-aller-allerletztes. „Ja, woher soll ich denn wissen, auf welchem Grund meine Siedlung gebaut ist? Was da alles mal in Rheinshof war? Wer da alles liegt?”

„Kleiner Tipp”, sagte Mario und zog seine buschigen Augenbrauen hoch. „Du bist hier in der alten Archiv-Schänke. Also jetzt, nachdem wir vor einigen Jahren den Laden übernommen hatten, heißt sie natürlich Big Window, wegen des schönen Schaufensters zur Straße, aber früher hieß sie eben Archiv-Schänke.”

Mond staunte. Klar, er war schon unzählige Male in seinem Stammlokal eingekehrt, hatte sich aber nie groß Gedanken gemacht, welche Geschichte eigentlich hinter dieser alten Pinte steckte. Er wusste nur: Sie war gemütlich, sie hatte sein Lieblingsbier, und die Arschlochdichte war nicht so hoch wie in vielen anderen Kneipen Kölns.

„Ist dir das noch nie aufgefallen? Schräg gegenüber um die Ecke ist das Stadtarchiv”, schob Mario nach. „Da findest du alles. Alles über die Stadt, alles über die Stadtteile, alles über jedes einzelne Viertel und alles…”

„Alles über jede einzelne Parzelle?”, fragte Mond.

„Aus den letzten 200 Jahren”, betonte Mario, stellte Mond ein neues Bier hin und nickte Richtung Fenster zur Straße, gegen das der Herbstwind jede Menge Regentropfen peitschte.

Mond starrte vor sich hin, wie es alle Trinker machen, die nach dem achten oder zehnten Bier einfach ihr Gehirn ausknipsen können.

Seufzend schaute er durch das Kneipenfenster nach draußen und sah, wie sich eine dunkle Gestalt an die Scheibe lehnte und kurz hineinschaute. Er sah nur einen schwarzen Mantel mit einer großen Kapuze. Dann verschwand sie.

„Ja, ich hatte schon mal eine Mail an die Stadt zum Thema Archiv geschrieben und nach Rheinshof gefragt. Es kam aber nichts zurück. Gar nichts. Nada. Niente.”

Mond ärgerte sich, dass er sich immer noch darüber ärgerte.

Mario wuchtete ein neues Fass auf die Spüle hinter dem Tresen und machte sich daran, mit einem Hammer den Hahn reinzuschlagen.

„Das Archiv ist ganz normal geöffnet. Wie eine Kneipe. Come in and find out, sagt meine Frau immer. Und sollten Reporter nicht rausgehen, statt nur Mails zu schreiben, Mond? Mond?”

Mario drehte sich um, doch Mond war verschwunden, nur noch ein leises Schließen der Kneipentür war zu hören.

Mario schaute ihm durch das Fenster nach und entdeckte auf dem Tresen einen Hunderter. Er steckte ihn sich in die Tasche, zerriss Monds Deckel und ließ die Fetzen in den Mülleimer regnen.

Mond merkte, wie wohltuend der kühle Regen auf seinen Kopf prasselte. Er war nie ein Freund von Regenschirmen, Kapuzen und dem ganzen Kram gewesen. Wenn’s Petrus mal regnen ließ, ja dann, Herrgott, soll’s so sein.

Kurz erinnerte er sich, wie er mit seiner Frau und seiner Tochter einmal an der See in Holland war. Drei Tage hatten sie gebucht, und drei Tage hatte es nur geregnet. Klitschnass spazierten sie am Strand, völlig durchnässt kehrten sie in Restaurants ein, um sich dann durchgefroren und pappsatt ins warme Bett zu kuscheln. Herrlich war’s. Doch herrlich, das war früher.

Jetzt war er allein und lief angetrunken, aber mit leichten Schritten und leichter Zunge, auf das Stadtarchiv zu. Was er da genau suchte, wusste er nicht. Er musste nur erst einmal reinkommen, und dann würde er es schon finden.

Come in and find out, dachte er und fand diesen Slogan echt gut, als er schon drin war im Stadtarchiv und vor einer alten Pförtnerin stand, die ihn mit bohrendem Blick anschaute.

Weiter mit Kapitel 4 „Feuer“