29.Juli 1990

 Ich erinnere mich noch, wie ich an jenem Tag im Wasser mein Gesicht verschwommen sah und dachte, das sei ein Sinnbild meiner Gefühle. Ich fühlte mich schwankend, rastlos, ruhelos. Wie konnte das alles sein? Wie konnte ich meinen Dienst in einem Heiligtum tun, in der Kathedrale des Christentums, der größten Herzkammer für Nächstenliebe und Barmherzigkeit – wenn draußen vor der Tür so viel Elend herrschte?

Ich erinnere mich, wie ich meine Hand langsam durch das Wasser gleiten ließ und das samtweiche Nass zwischen meine Finger strömte. Wie ich in meine Augen schaute, in deren grünen Pupillen sich das goldene Licht der Kerzen spiegelte. Ich erinnere mich noch, wie sich mein Mund bewegte und unablässig Worte hervorsprudelten: Corpus Christi, salva me. Corpus Christi, salva me! Als mein Kollege Alexander mich den Worten „John, es ist Zeit!“ zum Dienst rief und wir mit unserem schweren Gewand und der Holzkiste hinaus in die Hitze und in die Menschenmassen mussten, füllte ich damals wieder schnell und heimlich meinen Flachmann mit eben jenem Weihwasser, das ich mir später wie so oft gerne zur Erfrischung über Stirn und Schläfen rieb, und dann machte ich mich auf den Weg durch den Dom.

Der Dom. Wie bin ich überhaupt in den Dom gekommen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder. Auch wenn ich nie die Gelegenheit hatte, Theologie zu studieren, fühlte ich doch von ganzem Herzen eine große Verbundenheit zum Christentum und wollte immer für die Kirche tätig sein. Ich war überglücklich, als ich nach unzähligen Aushilfsjobs im Frühjahr 1990 eine Arbeit als Domschweizer fand.

Es fühlte sich wichtig und richtig an, für diese wunderbare Kathedrale zu arbeiten. Ich lernte schnell und wusste bald alles über die Liturgie im Dom, welche Gottesdienste, Gebete, Gewänder es gab. Wann welche Lieder gesungen, wann welche Sakramente gespendet wurden.  Immer wieder Teil dieses göttlichen Geschehens zu sein, erfüllte mich mit einer großen Liebe, die ich weitergeben wollte und die ich auch bei allen Menschen spürte, die beseelt diese Kirche verließen. Aber in erster Linie war ich ja da, um vor und im Dom für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

So ging ich an jenem schicksalhaften Sonntag an den Säulen vorbei auf das Petersportal zu. Ich hörte schon das Stimmengewirr und Gemurmel der Menschenmassen, die die Domplatte und den Roncalliplatz bevölkerten, und trat hinaus in das Licht der Abendsonne. Der Domvorplatz war schwarz vor Menschen. Auf den Balkonen des Dom-Hotels stand die sogenannte bessere Gesellschaft, und ich sah, wie sie gierig zugriff, als eine Kellnerin mit einem Tablett Sektgläser und einem Teller mit Häppchen heraustrat und neugierig zur Bühne hinabschaute.

Ich hörte eine Polizeisirene und sah Blaulicht in der Menge. Eine dunkle Limousine stoppte. Bundespräsident Richard von Weizsäcker stieg aus und winkte den Menschen zu. Hinter ihm kam Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Lauter wurde es, als Willy Millowitsch den Weg zum Hoteleingang entlangging und von Oberbürgermeister Norbert Burger begrüßt wurde. Doch immer wieder riefen die Menschen „Luciano, Luciano!“ Sie wollten damals Pavarotti sehen und hören.

Obwohl ich damals ein Freund der klassischen Musik war, so fühlte ich doch Empörung, ja Wut in mir aufsteigen. Das war doch hier eine heilige Kirche und kein Konzertsaal. Was sollte dieser ganze Zirkus hier?

Als dann auch noch ein Mann kam und mir 100 Mark in meine Holzkiste stecken wollte, damit ich ihn hinter den Absperrungen näher an die Bühne bringen konnte, fühlte ich mich erbärmlich.

Wie viel Geld die Leute hier ausgaben. Wie viel Geld die Menschen hatten, die hier herkamen. Wie viel Geld Luciano Pavarotti damals schon verdient hatte und an diesem Abend nach dem Konzert noch verdienen würde.

500 Gäste, so las ich im EXPRESS, der in unserem kleinen Zimmer neben der Dombauverwaltung lag, zahlten je 1000 Mark, um später mit dem Tenor im Maritim am Heumarkt speisen zu können. Wie viel Gutes könnte man allein mit diesen 500.000 Mark tun, wie viel Leid lindern und Menschen helfen?

Als ich damals über diese Berge an Geld nachdachte, sah ich diese arme Seele zwischen den Menschen umherirren. In Lumpen gehüllt, sammelte dieser Mann leere Glasflaschen aus den Mülltonnen und stopfte sie in einen großen Beutel, den er hinter sich herzog. Obwohl er immer wieder angepöbelt und beschimpft wurde, ließ er sich auf keinen Streit ein, sondern schien immer nur auf die nächste Flasche zu starren, die er irgendwo entdeckte oder vermutete. Ich war damals fasziniert von der Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit und schämte mich gleichzeitig dafür, jemanden zu bewundern, der nur ums nackte Überleben kämpfte, während ich vor dieser luxuriösen Kathedrale stand und dafür sorgen musste, dass die viele Millionäre um mich herum ein schönes, ungestörtes Konzert erleben konnten.

Irgendwann lief diese arme Seele an mir vorbei und starrte mich mit seinen wasserblauen Augen aus seinem zerfurchten Gesicht an. Er bettelte um Geld und schrie mich an: „Haben Sie Mark? Für einen Mann, der Hunger und Durst hat?“ Dann ließ er seinen Sack mit den Flaschen fallen, kniete vor mir nieder und zerrte an meiner Kollekte. „Gott ich brauch‘ Kohle!“ schrie er immer wieder. Und: „Mensch, gib was!“

Ja, ich wusste damals nicht, wie mir geschah. Ich bat ihn, aufzuhören. Ich sagte ihm, dass es mir leid tut. Irgendwann, als er nicht aufhören wollte, stieß ich ihn leicht weg.

Er verlor das Gleichgewicht, kippte nach hinten und fiel auf den Müllsack. Er schrie vor Schmerzen und wälzte sich keuchend auf dem Boden.

Ich merkte, wie mich Passanten erschrocken ansahen. Ich wollte mich entschuldigen, aber er trat am Boden liegend mit den Füßen nach mir und wollte mich schlagen.

„Wegen dir Flaschen jetzt kaputt!“, schrie er noch und trat gegen den Sack. Er spuckte mir vor die Füße und ging vor Schmerzen gekrümmt einfach davon. Und ich?

Ich musste den Müll fortschaffen. Ich nahm die Tüte voller zerbrochener Flaschen und Glassplitter und wollte sie zur Kreuzblume bringen. Und als ich sie in die Mülltonne werfen wollte, entdeckte ich einen Streifen Malerkrepp, der an der Tüte klebte.  „Tüte Igor. Johanneshaus, Annostraße 11“, war da zu lesen. Ich wusste schon damals, dass dies eine bekannte Unterkunft für Wohnungslose war und ein Ort, an dem viele Bettler und Obdachlose Zuflucht suchten.

Ein gewaltiger Schrei aus Tausenden von Kehlen riss mich damals aus meinen Gedanken. Pavarotti musste die Bühne betreten haben, die Musik setzte ein und vermischte sich mit einem ohrenbetäubenden Applaus, der vom Roncalliplatz herüberschallte.

Obwohl nun mein eigentlicher Dienst begann, hatte ich an diesem Tag noch etwas anderes vor.

Ich lief einfach los, ließ den Dom und Pavarotti hinter mir und machte mich auf die Suche. Ich musste Igor finden.

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