Kapitel 4: Feuer

Hinter einem kleinen schmiedeeisernen Geißbock, der als Prospekthalter diente, stand die Pförtnerin. Sie mochte so Mitte 60 sein, die Haare streng nach hinten gekämmt, mit weißem Gesicht, weißer Bluse und grauem Blazer.

Sie schien gehen zu wollen, so konzentriert schaute sie in ihre große Handtasche und warf ein Brillenetui hinein.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie Mond und schaute ihn erneut mit einem bohrenden Blick an.

„Guten Tag, Mond mein Name. Ich bin Journalist und zu einer Akten-Recherche angemeldet.“

„Ein Journalist? Zu einer Akteneinsicht?“

„Schauen Sie bitte mal in Ihre Liste? Da muss mich die Archiv-Leitung vermerkt haben.“ Mond änderte jetzt seinen Tonfall. Er wusste, dass man den Leuten sagen soll, was sie tun sollen, damit sie es tun.

Die Empfangsdame stöhnte kurz auf, griff in ihre Tasche und kramte herum, um ihr Etui wieder zu finden. Dann klappte sie es langsam auf, nahm ihre Brille heraus und putzte erst einmal die Gläser mit einem schwarzen Tüchlein. Als sie auf dem Klemmbrett die Liste mit den angemeldeten Tagesbesuchern durchschaute und gerade ihren Blick heben wollte, war Mond verschwunden.

Still und heimlich hatte er sich die nassen Sneakers ausgezogen und war an der Pförtnerloge vorbei lautlos auf Socken in einen langen Gang geschlichen.

Insgeheim kicherte Mond. Vielleicht gab es da eine Parallele zum echten, einzigen Mond, der auch kommt und geht, wann er will, schoss es ihm durch den Kopf. Oder waren das alles nur seltsame Hirngespinste, die auf dem Alkoholspiegel in seinem Kopf herumtanzten?

Wie auch immer, er war schon Richtung Keller unterwegs und fühlte sich verschlagen und extrem mutig, während die Pförtnerin kopfschüttelnd ihre Handtasche nahm, auf ihre kleine goldene Uhr schaute und Richtung Ausgang lief.

Als Mond eine Treppe zu einem Raum entdeckte, in dem laut Hinweisschild Kölns Stadtteilgeschichte archiviert wurde, wollte er betont lässig die Stufen herabgehen. Er wollte sich notfalls als ganz normaler Besucher tarnen und bemerkte nicht, dass er eigentlich völlig allein da unten war.

Er hatte keine Ahnung davon, dass genau in diesem Moment vor dem Archiv eine schwarze Gestalt aus dem Regen auftauchte, einen schweren Schlüsselbund aus der Tasche zog und den Haupteingang von außen abschloss.

Mond kam in einen großen, von Neonlicht erhellten Raum, durch den sich drei Gänge links, rechts und in der Mitte über gut 25 Meter zogen. Da der Boden durch die Lüftungsanlage, die den Raum auf konstant 12,5 Grad kühlte, eiskalt war, zog er seine Schuhe schnell wieder an.

Bei jedem Schritt quietschten nun seine Sohlen, und jedes Quietschen, das Mond Angst und Unbehagen bereitete, hallte in den Gängen und an den schweren Aktenschränken wider.

Dann sah er ein Schild, es sah aus wie eine Leuchtreklame, von der Decke baumeln: „Veedel“ stand drauf.

Ein unmissverständlicher Hinweis auf Kölns Stadtteile, deren Zahl traditionell mit 86 angegeben wurde, aber eigentlich bei weit über 100 lag, wie einmal der bekannte Stadthistoriker Dr. Philipp Hoffmann in mühevoller Kleinstarbeit festgestellt und publiziert hatte. Doch es war auch hier wie bei so vielen Dingen in Köln. Man nahm‘s nicht so genau.

Mond spähte durch die Regalreihen und stoppte beim Schild „STADTTEILE R – Z.“

Rheinshof, da müssten wir es doch haben, dachte er sich und fuhr mit seinen Fingern durch die Aktenreihen. Die Unterlagen waren in DIN A3 große, faustdicke Bücher gebunden. Da war Raderberg, Raderthal, Rath/Heumar, Riehl und dahinter kam Rodenkirchen. Aber wo war Rheinshof?

Als er den Band von Riehl genauer anschaute, fiel ihm eine Lücke zu Rath auf. Hier musste der Band zu Rheinshof gewesen sein. Aber der war verschwunden. Ein uraltes Veedel, das bisher verschlafen vor sich hindämmerte und niemanden interessierte – warum hatte sich gerade jetzt jemand diese Dokumente geschnappt?

Plötzlich ging das Licht aus. Mond hielt inne. „Hallo? Hallo, ist da jemand?“, rief er. Doch seine Rufe verhallten.

Er zückte sein Handy, schaltete die Taschenlampe an und begann, die Regalreihe zu filmen. Er hörte ein knisterndes, unheimliches Geräusch. Erst ganz leise aus einer Ecke, dann aus mehreren Richtungen, dann wurde das Zischen und Rauschen immer lauter und schien näher zu kommen. Das Knistern erinnerte ihn an… Riehl. Einen Einsatz im Zoo, als ein Gehege in Brand stand und mehr als 100 Tiere elendig…

„Feuer!“

Mond sah hinter Regalen aufblitzende glutrote Lichter und spürte, wie schlagartig Qualm und Hitze die Luft erfüllten.

Als er um die Ecke flüchten wollte, schossen ihm schon die ersten Flammen entgegen. Nur wenige Augenblicke später flackerten die ersten Regale mit Archivalien lichterloh, und Feuerwellen krochen unter der Decke langsam auf ihn zu.

„Hilfe! Feuer! Hilfe!“ schrie Mond, drehte sich um und versuchte, sich durch den Gang an der anderen Seite der Wand zu retten. Er rannte um die Ecke, aber auch dort versperrte ihm ein Schrank, der schon in Flammen stand, den Weg.

Mond wich erschrocken zurück und erstarrte vor Angst. Er sah, wie die Feuerbrunst immer stärker wurde und rasend schnell die Dokumente verschlang, die teilweise brennend auf den Boden stürzten oder in Aschefetzen durch die glühend heiße Luft wirbelten. Er blickte hilflos und schockiert in die Feuerwand. War das sein Ende? Gestorben, verglüht, ja eingebrannt ins Gedächtnis der Stadt? Verdammt, konnte er seinen Sarkasmus nicht einmal in größter Lebensgefahr ablegen?

Nervös tänzelte er nun wie bei einem Kampf nach links und rechts und suchte einen Fluchtweg, doch es gab keinen. Die Hitze drückte ihn förmlich zurück an die Wand. Als er seine Hände ausstreckte, berührten seine Finger einen metallischen Griff.

Er gehörte zu einem leeren Rollwagen, mit dem die Akten von Abteilung zu Abteilung geschoben wurden. Dieser hatte eine Ladefläche oben und eine unten über den Rollen.

Ein Geschenk des Himmels, dachte Mond. Sterben würde er. Aber sicher an einem anderen Tag.

„Ab durch die Mitte. Ab durch die Mitte!“ schrie er laut, drehte den Wagen mit einem großen Ruck vor sich, drückte ihn wie ein Bobfahrer nach vorn und rannte los in den mittleren Gang, mitten in die Feuerwand hinein.

Während hinter und über ihm die von der Feuerhitze teils verbogenen Regale zusammenstürzten, hechtete Mond auf die untere Fläche des Rollwagens und schoss wie ein Bobfahrer durch das flammende Inferno.

Immer mehr brennende Akten prasselten auf ihn herab, doch sie konnten das schwere Gefährt, das Mond mit aller Gewalt in Schwung gebracht hatte, nicht stoppen.

Mit einem kräftigen Scheppern krachte der Rollwagen gegen einen Türrahmen und katapultierte Mond, schwarz von Ruß, mit einem Bauchklatscher zum rettenden Treppenhaus. Er rutschte noch ein paar Meter, sprang dann auf und rannte um die Ecke die Treppe hoch.

Da knallte es hinter ihm in dem Kellerraum, in dem die jahrtausendalte Geschichte Kölns innerhalb weniger Minuten von Flammen aufgefressen wurde. Mond spürte die Druckwelle und eine große Stichflamme schoss hinter ihm ins Treppenhaus. Er rannte und rannte einfach weiter, bis er schwer atmend das Foyer erreichte.

Panisch schaute er sich um, aber nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Es war totenstill und leer. Er konnte auch keinerlei Sirene oder Feueralarm hören. Den Griff zum Handy bereute er. Das Gerät, mit dem er die ersten Flammen noch gefilmt hatte, war bei seiner Flucht so heiß gelaufen, dass er es erstmal in der Tasche ließ.

Mond eilte schnell zum Ausgang und wollte die Tür ins Freie aufdrücken, doch sie war verschlossen. Er hämmerte gegen die Glastür, immer wieder, und sah, dass es draußen in Strömen regnete. Der einzige Passant, der unter einem Regenschirm eilig und mit gesenktem Haupt über die Straße hastete, konnte ihn weder sehen noch hören.

Verzweifelt sah er sich um und rannte durch das Foyer zurück zur Pförtnerloge. Er griff sich den eisernen Geißbock, nahm Anlauf und schleuderte ihn gegen die Scheibe, die sofort in tausende kleine Stückchen zersplitterte.

Mond sprang hindurch, rannte weiter und kam nach ein paar Metern zum Stehen. Er keuchte und hustete und stöhnte und schrie vor Schmerzen. Davongekommen! Ich bin raus, dachte er und schaute sich um, in der Hoffnung, dass endlich irgendwo eine Feuerwehr kommen oder er sie zumindest hören würde.

Doch statt einer Sirene vernahm er plötzlich ein lautes, undefinierbares Knacken. Mond nahm sein Handy aus der Tasche, das immer noch filmte. Gerade als er auf den Notruf umswitchen wollte, kam dieses unheimliche Knacken, das durch die gesamte Straße schallte, erneut. Dann noch einmal. Und noch einmal, in immer kürzeren Abständen. Plötzlich hörte er ein ohrenbetäubendes Grollen, der Boden vibrierte, und Mond fand sich im nächsten Alptraum wieder.

Das gesamte Gebäude fiel Etage für Etage mit einem gewaltigen Knall in sich zusammen und rutschte wie eine mächtige Lawine nach vorne gegen die gegenüberliegende Häuserfront, um in einer fast organisch scheinenden Welle aus Steinbrocken und Stahlträgern und berstenden Wasserleitungen nach links zu driften und auf Mond zuzurasen.

Panisch rannte Mond los, er rannte und rannte, bis ihn eine gewaltige, dunkle Staubwolke eingeholt hatte und kleine Körnchen wie Stecknadeln in Gesicht und Augen piksten. Röchelnd rettete sich Mond in einen Hauseingang und sah, wie die Wolke, aus der schwarze Tropfen schossen, wie ein rauschender Zug an ihm vorbeirollte.

Endlose Augenblicke vergingen, und dann kam sie zurück. Diese unheimliche Stille. Niemand kam, niemand schrie. Mond fühlte sich ganz allein. Er stiefelte durch den verstaubten Boden zu einem kleinen Brunnen, der vor der gläsernen Fassade einer Bank stand.

Mond sah sich im Spiegelbild. Der Regen, der unablässig mit der Asche vermischt auf seinen Kopf und seine Lederjacke rieselte, färbte ihn gespenstisch schwarz.

In der zitternden Hand hielt er noch wie festgewachsen sein Handy, das alles gefilmt hatte. Mond sah im schmutzigen Glasfenster seinen verdreckten Kopf und seine weißen Augen und war entsetzt über seinen Anblick.

Er wischte die Staubschicht von der Wasseroberfläche, wusch sich schnell Gesicht und Haare, hielt seine schmierigen Turnschuhe in den Brunnen und zog sie klitschnass an. Hektisch tastete er sich nach Verletzungen ab, fand aber nichts und merkte mit einem kurzen Aufatmen, dass er in der Jeans noch Schlüssel und seine kleine Geldbörse dabei hatte.

Da zuckte er zusammen. Eine andere schwarze Gestalt tauchte kurz hinter ihm im Spiegelbild auf und verschwand. Als plötzlich aus allen Himmelsrichtungen Sirenen ertönten, ein Helikopter kreiste und Blaulicht durch die immer noch umherwabernde Staubwolke zuckte, rannte Mond die Straße hinab zur U-Bahn-Station Severinstraße.

Dreckig, verschwitzt und abgerissen fiel er in der Masse der Menschen, die am Gleis auf die verspäteten Bahnen warteten, kaum auf.

Mond sprang in die Linie 4, stieg kurz danach am Neumarkt in die 1 und fuhr die Aachener Straße Richtung Rheinenergiestadion hoch, als es um ihn herum immer wieder piepte, klingelte und brummte.

Wer sein Handy grade nicht in der Hand hatte, sollte es nun entsetzt und ungläubig erfahren. Zunächst hieß es, ganze Häuserblöcke wären in Köln zusammengestürzt. Dann kam die Meldung, dass das Stadtarchiv in Trümmern liegt. Die Nachricht verbreitete sich rasend schnell in Deutschland.

Mond brauchte eine kalte Dusche. Und einen Freund. Jetzt.

Szenenwechsel

Erschöpft und immer noch außer Atem ließ Mond das eiskalte Wasser auf seinen Kopf prasseln. Er lehnte mit den Armen an der Wand und versuchte, den ganzen Schock und Schmerz und Dreck und Wahnsinn einfach abzuspülen und in den Ausguss fließen zu lassen.

Während er immer wieder Wasser schluckte, ausspuckte und seinen staubigen Mund ausspülte, stellte er sich vor, wie die bösen Flashbacks, etwa das tosende Feuer, die einstürzenden brennenden Aktenschränke und die Gluthitze, die ihn verschlingen wollte, wie all das mit den von seiner Brust abperlenden Wassermassen in dem kleinen, dreckigen Gitter zu seinen Füßen verschwand.

Natürlich spürte er im Herzen den reflexartigen Instinkt, aus all dem, was er da eben erlebt hatte, eine Riesen-Story zu machen.

Er hatte ja alle Infos und Bilder aus erster, aus seiner Hand. Er könnte einfach in der Redaktion anrufen – schon hätte er eine Seite, ach mindestens eine Doppelseite alleine für seinen Erlebnisbericht mit den vielen exklusiven Fotos, die vielleicht um die Welt gehen und durch alle sozialen und asozialen Netzwerke wabern würden.

Aber klar war: Wer ihn feuerte, wer von ihm nichts mehr wollte, für den wollte Mond auch nichts mehr tun. Da hatte er seinen Stolz.

Zitternd vor Kälte, die Mond aber irgendwie als wohltuend empfand, ging er tropfend zu seinem Spind.

Es war wirklich ein unschlagbarer Vorteil, dass er im Gym neben seinen Trainingsklamotten – Boxhandschuhe und Hallenschuhe, Socken, einer Box-Hose und ein dickes Baumwoll-T-Shirt, das den Schweiß gut aufnehmen konnte – auch ein paar normale Sachen zum Wechseln und eine Schachtel mit Müsli-Powerriegeln hatte.

Immer wieder hatte er vor oder nach dem Training noch Termine, und so bunkerte er in seinem schmalen Schränkchen neben frischen Shorts und Jeans und einem Maßhemd auch ein Paar glänzende Budapester, mit denen er sich überall sehen lassen konnte.

Ja, es war schon gut, dass sein Boxclub SC Colonia 06, einer der ältesten der Welt, im Olympiastützpunkt Rheinland am FC-Stadion zuhause und sieben Tage die Woche von früh bis spät offen war – und er immer Zutritt hatte.

Während Mond in seinen Spind schaute, fiel sein Blick auf das Foto von seiner Frau und seiner Tochter, das an der Innenseite der Tür klebte. Wie er sie doch vermisste. Ihr Lachen, ihre Wärme. Ihre Nähe. Ihre Liebe. Eben hätte alles vorbei sein können. Einfach so.

Einmal den falschen Eingang gewählt, einmal im falschen Zug, Bus oder Flieger gesessen – und das wär’s gewesen. Hätte ihn jetzt irgendjemand vermisst? Hätte irgendjemand gewusst, dass er sich im letzten Kellerwinkel des Stadtarchivs aufhielt, als aus unerklärlichen Gründen das gesamte Ding einstürzte und ihn fast begraben hätte?

Niemand. Es würden sicher Wochen, Monate, in Köln vielleicht Jahre vergehen, bis der letzte Klumpen Geröll der Grube gehoben und ausgewertet wurde.

Peng! Plötzlich flog die Tür seines Spinds zu.

„Hans dich sucht. In Ring!“ Carina, die Trainerin der Damen-Boxmannschaft, oder besser, des Damen-Teams, wie es jetzt hieß, stand vor ihm und sah ihn streng an.

Sie hatte eigentlich ein hübsches Gesicht, das aber eindeutig schon zu viele Schläge abbekommen hatte. Und das nicht nur im Ring. Immer wieder machte sie von sich reden, weil sie gerne mal in Diskotheken auf Anmachsprüche direkt einen harten Jab als Antwort gab. Nur gelegentlich waren die Typen schon so blau, dass sie diesen Schmerz nicht spürten und mit Bierflaschen oder Longdrink-Gläsern retournierten.

Jetzt senkte sie ihren Blick und schaute an Mond herab. „War kalt? Gleich wird warm“, sagte sie spöttisch und ging. Mond schaute an sich herunter, etwas peinlich berührt, weil er nackt war – er hatte gedankenversunken sein Handtuch in der Dusche vergessen. Und es war offensichtlich, dass die eiskalte Dusche immer noch ihre Wirkung zeigte.

Schnell zog er sich sein Sportzeug an, stopfte sich einen Kraftriegel in den Mund, verschloss den Spind und lief auf die Halle zu, in der sich das prasselnde Knallen von Boxhandschuhen, das Peitschen von Springseilen und die Schreie der Trainer in ein spannungsgeladenes Durcheinander mischten.

Dann stand er am Ring. Und fühlte sich zuhause.

Alle schlechten Gedanken, alle Angst und Schmerzen waren vergessen. Ein lautes Brummen dröhnte aus Lautsprechern von den Wänden, die mit Landes- und Stadtfahnen und Plakaten vergangener Boxturniere geschmückt waren.

Hans, sein alter Kumpel, stand hinter einem Boxsack, winkte ihn heran und schrie: „Feuer! Mond, drei Minuten. Ran jetzt! Feuer!“

Mond schüttelte sich, tänzelte und trommelte los. Links, rechts, links, links, links, rechts, links. Immer wieder deckte er den Boxsack mit Schlägen ein, den sein alter Trainer, er nannte ihn wegen seiner vielen Erfolge Meistercoach, festhielt.

Ohne nachzudenken, prügelte Mond alles an Kombinationen raus, die er draufhatte. Hans rümpfte seine dicke Knollnase und schrie ihn an. „Noch 30 Sekunden – und jetzt weiter: Feuer!“

Mond merkte, wie seine Arme brannten, wie seine Hände und Lunge schmerzten. Er konnte aber das alles ausknipsen und weiter auf den Boxsack einschlagen, oder auch auf Gegner, wenn es denn, wie damals, sein musste.

Als er das zweite, erlösende Brummen des Drei-Minuten-Countdowns hörte, ließ er die Arme sinken, setzte sich auf den Boden und atmete schwer durch.

„Komm Mond, lass dich nicht so hängen wie ein alter Sack! Du warst doch mal gut. Du wolltest doch hoch hinaus!“

Hans war als Trainer gnadenlos und hätte auch als Drill Instructor in jedem amerikanischen Kriegsfilm mitspielen können. „Noch 30, nein 25 Sekunden Pause. Und dann: Zeig mir mal richtig, was du kannst!“, sagte er und zog sich schwere Pratzen über.

„Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!“ sagte Mond völlig außer Atem und schüttelte den Kopf. „Die machen mich fertig!“

Hans, der Zwei-Meter-Mann, beugte sich zu ihm hinab und legte ihm eine dicke Pratze auf die Schulter. „Die?“

„Ich habe mich krummgemacht für die Zeitung. Tausende Storys geschrieben. Tag und Nacht und in Urlauben geackert. Ich war undercover unterwegs, habe mein Leben für den Verlag aufs Spiel gesetzt! Und jetzt ist das alles nichts mehr wert? Alles vorbei?“, hörte Mond sich fluchen.

Als ob jemand die Musik anstellt, schnellte der Geräuschpegel im Gym plötzlich wieder steil nach oben. Neue Runde, neuer Schmerz. Mond schlug voller Wut auf die hin- und herzuckenden Pratzen seines Trainers. Paff-Paff-Paff!

„Ich war eben dabei, als das Stadtarchiv einstürzte. Ich war mittendrin! Das wäre eine Riesen-Story. Aber wer mich feuert, kriegt nichts mehr.“ Mond schossen Tränen in die Augen. „Nein, wer mich feuert, der kriegt nichts mehr!“

„Du warst dabei? Du warst drin?“, schrie Hans ungläubig. Dann nickte er. „Aber richtig so! Wir werden hier alle ausgebootet. Keiner mag uns alte Haudegen mehr. Keiner schätzt, was wir leisten und geleistet haben. Und noch alles leisten können!“

Auch Hans tänzelte nun kampfbereit herum und täuschte mit seinen Pratzen Schläge an, denen Mond ausweichen sollte. „Alle hassen uns plötzlich. Wir sind Auslaufmodelle. Jetzt muss sich jeder in dieser schönen, neuen Welt allein durchschlagen!“

Mond nickte und zog immer wieder den Kopf ein, um angetäuschten Schlägen auszuweichen.

„Schau mal…“, sagte Hans und Mond wusste, dass nun etwas Wichtiges folgen musste, denn für Lappalien würde der Coach die Drei-Minuten-Einheiten nie unterbrechen. „Schau mal, der Mike da drüben!“

Mond drehte sich um und entdeckte einen kleinen, drahtigen Mann, der sicher an die 60 Jahre alt war. Gekonnt deckte er mit der rechten Faust seinen Kopf. Mond sah nur einen Stoppelbart und kurzrasierte graue Haare.

„Der Mike, der war 35 Jahre bei Ford. Eigentlich ein krisensicherer Job. Doch weil bald keine Verbrenner mehr gebaut werden, alles nur Richtung Elektro fährt, ist er jetzt draußen.“

Mond nickte und wischte sich den Schweiß aus den Augen.

„Oder schau dir die Aylin an“.

Hans deutete auf eine schlanke Frau, die ihre Haare zu einem dicken Zopf gebunden hatte, der unter dem Kopfschutz heraushing und im Takt der Fäuste hin- und herschwang. Sie stand im Ring mit Carina, der Trainerin, die Mond eben in der Umkleide aufgesucht hatte.

„Aylin war erst Prostituierte und fuhr danach, als sie Kinder bekam, Taxi. Erst kassierte sie von den Taxikunden die Kohle und dazu Provision von den Puffs, zu denen sie die Leute kutschierte. Sie machte gutes Geld, Jahrzehnte lang.“

Mond schaute zu, wie die Frau mit ihrer Trainerin kämpfte. Irgendetwas trieb sie an, immer wieder in den Infight hineinzugehen, auch wenn sie wusste, dass sie ihrer Trainerin niemals das Wasser reichen konnte. Sie steckte Prügel ein und kämpfte ohne Rücksicht auf Verluste.

„Alles vorbei! Die meisten Puffs sind dicht, Taxifahren ist viel zu teuer geworden, und mit der neuen Uber-App steuert keiner das Rotlicht an. Jetzt lebt sie von der Stütze.“

Mond, wieder bei Puste, nahm die Fäuste hoch, um weiter zu schlagen. Da drehte sich Hans kurz um, zog sich blitzschnell dicke schwarze Boxhandschuhe über und kam gereizt auf Mond zu. „Und ich bin auch erst 56. Und werde dauernd im Amt gefragt: Wie lang, wie lang, wie lang willst du eigentlich noch arbeiten, du alter Sack? Und unsere Politiker - die reden über Rente mit 70! Dabei werden wir Alten überall abserviert. Was für ein Hohn!“

Links, rechts, links – nun schlug auch Hans mit mächtig Wut im Bauch ein paar Haken und brachte Mond direkt in Bedrängnis. Er konnte, nein musste die Deckung hochhalten und die Schläge durchstehen, auch wenn die Arme brannten und die Beine immer schwerer wurden.

So ging es Runde für Runde. Er sah aus dem Augenwinkel, dass immer mehr Männer und Frauen verschiedenster Altersklassen drumherum ihr Training unterbrachen und ihnen nun fasziniert zuschauten.

Mond biss die Zähne zusammen und merkte, dass Hans noch richtig Dampf in den Fäusten hatte. Dabei wurde ihm bei jedem Treffer, den er einstecken musste oder austeilen konnte, immer klarer, welche Symbolik sein augenblicklicher Fight mit dem Meistercoach eigentlich hatte.

Die Kampfzone da draußen im Arbeitsleben bestand nicht mehr nur aus den Fronten Jung gegen Alt. Um die Existenz in den Büros oder Fabriken mussten nun auch immer mehr Alte gegen Alte kämpfen. Und wie hier im Box-Gym schauten auch da draußen die jungen Leute gebannt und etwas herablassend zu, wie die Alten irgendwann das Handtuch warfen – oder sich gegenseitig bis aufs Blut zerfleischten. Und wer übrig blieb, war leichte Beute. Ihre Beute.

„Wie alt bist du jetzt eigentlich?“, fragte Hans plötzlich.

Mond, aus seinen Gedanken gerissen, stoppte kurz. Doch selbst das war zu lang. Ein Schlag traf ihn über der Schläfe. Er spürte einen dumpfen Schmerz, der durch seinen Körper fuhr und ihn schlagartig lähmte. Langsam sank er auf die Knie.

„Mensch Mond, was ist mit dir los? Wach auf und kämpfe! So kurz vor dem Ziel: Das war die elfte Runde! Mensch, das ist ja wie damals, als…“

Mehr bekam Mond nicht mehr mit. Geschlagen, gebeugt und schwer atmend, taumelte er aus der Halle in einen Nebenraum, der „Bauchwiese“ hieß. Doch an Sit-Ups, die einige hier in Zweierteams absolvierten, dachte er nicht.

Mond legte sich auf eine der Matten, schob erschöpft seine Hände mit den Boxhandschuhen unter den Kopf und schlief ein.

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