Kapitel 1: Krieg

Köln, Oktober 1944

Mensch, ärgere dich nicht!“ Belustigt, aber mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton wies Anton seinen Bruder zurecht und wischte mit einem Streich die rote Spielfigur vom Brett.

„Das kriegst du zurück!“, sagte Karl leicht beleidigt und schaute mit bangen Augen auf den kleinen, handgeschnitzten Holzwürfel, der über den Rand des Spielfelds kullerte und wieder eine Sechs zeigte.

„Und… raus mit dir!“, zischte Anton und schnippte auch Karls zweite Figur, die der ins Rennen geschickt hatte, vom Feld. Sie flog im hohen Bogen auf die graue Decke, auf der sie saßen, und kullerte weiter ins Gras.

Als Anton grinsend hinterherschaute, wie das kleine rote Männchen zwischen den Gänseblümchen verschwand, sah er nicht, wie Karl sich von der Seite wütend auf ihn stürzte. Schon hatte ihn sein Bruder am Kragen seines braunen Hemdes gepackt und zog das Halstuch immer enger. Sein Blick wurde plötzlich eiskalt und hasserfüllt. Ja, kämpfen konnte Karl gut, das hatte er in der Hitlerjugend gelernt. Aber Anton war ihm auch dort ebenbürtig. Blitzschnell packte er mit der rechten Hand an Karls Oberarm in Höhe der Armbinde und mit der linken an die Koppel und warf ihn mit einer Körperdrehung nach rechts ins Gras.

„Kinder, benehmt euch. Wenigstens an eurem Geburtstag! Und passt bitte auf eure neuen Schuhe auf. Die waren teuer.“

Anton und Karl schauten auf und sahen, wie ihre Mutter Lieselotte, zurechtgemacht in einem blauen Kleid mit abgesetztem weißem Kragen, darüber ein cremefarbener Kittel, mit einem Kuchen vor ihnen stand. Elf kleine Kerzen flackerten im Wind. „Herzlichen Glückwunsch, ihr Lieben!“, sagte sie und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Aber Mutter, wir hatten doch gestern Geburtstag“, sagte Karl und lächelte wohlwissend seine Mutter an.

„Schlaumeier!“, sagte Anton und boxte ihm in die Rippen.

„Ja, ihr wisst doch, an einem Freitag, den 13., will ich nicht feiern. Der ganze Krieg und die Zeiten sind schlimm genug. Und als ich genauso alt war wie ihr…“

„…da hattest du so einen gruseligen Film gesehen, der hieß…“ fiel ihr Karl ins Wort und überlegte kurz. Dann leuchteten seine Augen: „Freitag, der 13.! Das unheimliche Haus! Und da…“

„…sterben am Freitag den 13. immer Mitglieder einer Familie“, sagte Anton. „In diesem unheimlichen Haus. Das konntest du nie vergessen. Und deshalb feiern wir heute.“

„Ja, deshalb, liebe Kinder, feiern wir heute. Und hoffen, dass es für unsere kleine Familie ein friedlicher Oktober bleibt. Und ihr zwei immer aufeinander aufpasst.“

Lieselotte lächelte und fing an, mit dem Kuchen in der Hand zu schunkeln. „Und jetzt: Eins und eins es elf, dat es doch klar…“, sang sie und wollte weitersingen, doch schon hatten sich Anton links und Karl rechts bei ihr eingehakt und sangen lauthals mit: „Kölle, du bes wunderbar, eins und eins es elf dat es doch klar, Kölle wunderbar!“ Und alle drei schrien vor Freude im Chor: „Kölle wunderbar!“

Mit ihrer guten Laune steckte das schunkelnde Trio, die Kerzen flackerten mal nach links, mal nach rechts, auch die alten, letzten überlebenden Nachbarn an, die auf der kleinen Ludwigstraße im alten Rheinshof vorbeiliefen und ungläubig herüberschauten. So ähnlich sahen sich die Jungs mit ihren blauen Augen, ihren dunkelblonden Scheiteln und darunter ihren zwar noch kindlichen, aber schon straffen Gesichtszügen. Von den identischen Uniformen der Hitlerjugend, die beide an ihrem Ehrentag angezogen hatten, ganz zu schweigen. Und an den Füßen trugen sie sogar die gleichen schwarzen Sportschuhe, die in der Sonne bei jedem Schritt kurz aufblitzten.

Plötzlich stoppte die Mutter das jecke Schunkeln. Karl sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Schnell stellte Lieselotte die Torte auf das Spielbrett und nahm ihre Jungs in die Arme. „Lasst uns für Papa beten. Hoffentlich überlebt er den Kampf um Aachen. Ich kann spüren, welche Angst er hat“, sagte sie. Anton, der seinen Kopf an die Brust der Mutter presste, fühlte ihr pochendes Herz.

Er vermisste seinen geliebten Vater, der von der Front noch rechtzeitig eine Geburtstagskarte geschickt hatte. Natürlich wie immer mit der Hoffnung und der Bitte, dass sie sich um ihr kleines weißes Fischerhäuschen kümmerten. „Klein, aber mein“, sagte Heinz immer und zitierte damit den Satz, den wiederum schon sein Vater, ein alter Rheinschiffer, über den Türeingang gezimmert hatte.

Ihr Häuschen im Kölner Süden war noch gut erhalten. Einige Gebäude lagen in Trümmern oder waren verwaist, bis auf die Zimmerei Jupp Eisenach, die eine große Werkstatt und einen geräumigen Luftschutzkeller hatte. Auch die große Ulme an der Ecke, unter der sie gespielt hatten, ragte prächtig in den Himmel. Sie war die größte weit und breit im Süden der Stadt. Wer mit der Bahn am Rhein entlang aus Bonn Richtung Kölner Altstadt fuhr, konnte sie schon von Weitem sehen. Wer in Rheinshof aussteigen wollte, sah kurz vorher, wenn er genau hinschaute, wie ein Gleis über eine Weiche nach links von der Hauptstrecke abging. Die Abzweigung führte über das entgegenkommende Gleisbett in ein Waldgebiet. Nur im Winter gaben die kahlen Bäume den Blick auf zwei bedrohlich wirkende Wachtürme frei.

Der Bahnhof in Rheinshof war früher voll von Menschen, die aus dem Süden in die Altstadt zur Arbeit oder in die vielen Brauhäuser und Geschäfte rund um den Dom fahren wollten. In den Kriegstagen jedoch herrschte oft eine gespenstische Leere. Trotzdem kam es immer wieder zu Gedrängel, weil ein großer Teil des Bahnsteigs nun abgesperrt war. Dort lagerten in mannshohen Kisten Munition und Ersatzteile für die mächtige Flugabwehrkanone, die von Sandsäcken ummauert die Gleisanlagen verteidigen sollte.

Es war eigentlich ein friedlicher Tag, dieser 14.Oktober 1944. Niemand da unten ahnte, dass in diesem Moment Schwärme von britischen und amerikanischen Bombern über den Wolken waren, um neben dem Ruhrgebiet auch Köln in Schutt und Asche zu legen. Die „Operation Hurricane“ sollte 10.000 Tonnen Bomben, die höchste innerhalb eines Tages abgeworfene Bombenlast des gesamten Zweiten Weltkrieges, vom Himmel fallen lassen.

Karl und Anton blinzelten noch einmal in die Wolken, stopften sich mit dem Kuchen voll und schoben stolz ihre Füße aneinander. Beide hatten, wie sollte es auch anders sein, die gleichen Schuhe an. Echte Dassler, in glänzendem Schwarz, die ihnen ihr Onkel aus Bayern über viele Umwege zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie sahen, dass sich kleine Tropfen auf ihren Schuhspitzen sammelten. „Die will ich nie wieder ausziehen. Bis ich… 88 bin!“, sagte Karl nachdenklich.

„88? Wir sind elf. Das wäre also in 77 Jahren“, rechnete Anton vor.

„Schlaumeier!“, grinste Karl.

„Moment, das wäre im Jahr… zwei-tau-send-und-ein-und-zwanzig“, schob Anton hinterher und sprach die Zahl ganz langsam und erschrocken aus.

Karl schaute ihn an. „Das macht mir irgendwie Angst. Bis dahin bleiben wir aber zusammen, versprochen?“

„Ja, Bruderherz. Obwohl… Es kommt drauf an.“

„Worauf denn?“, fragte Karl.

„Ob du hinterherkommst. Denn in diesen Schuhen werde ich immer viel schneller rennen als du“, feixte Anton. „Erst mache ich dich im Spiel fertig, dann auch noch im Sport.“

„Wetten, dass ich schneller bin?“, sagte Karl und hob seine Nase herausfordernd nach oben. „Wer zuerst an der Flak ist, hat gewonnen. Und das werde ich sein!“

„Ich!“

„Nein ich!“

„Quatsch, ich!“

Immer wieder und immer lauter schrien sich die zwei Jungs an und gingen, während schon dicke Tropfen auf sie herabprasselten, aufeinander zu. Als Anton wieder seinen Mund öffnete, heulte plötzlich eine Sirene ohrenbetäubend vom Bahnhof herüber und übertönte selbst seinen letzten Schrei. Das schrille Dröhnen durchfuhr ihre Körper. Der Fliegeralarm ließ plötzlich Soldaten mit aufgerissenen Augen an ihnen vorbei zur Flak eilen. Wie erstarrt schauten sich Anton und Karl an, als auch schon ihre Mutter aus dem Haus gestürmt kam und schrie: „Kommt, Kinder, kommt!“

Mit wehenden Armen und flatterndem Mantel rannte sie weiter und deutete auf den Eingang zum Luftschutzkeller der Zimmerei Eisenach. Karl sprang auf und wollte zu seiner Mutter rennen, die schon vor dem Kellereingang auf einem Schemel saß und sich noch schnell feste Schuhe anzog. Anton sah, dass sie weinte.

„Was für ein Elend, was für ein Elend“, schluchzte sie. „Da feiern wir nicht am 13. – und am 14. fallen die Bomben! Was für ein Elend.“

Als Karl seine Mutter trösten wollte, hielt ihn Anton am Arm fest. „Ich renne jetzt rüber zur Flak! Ich renne jetzt rüber!“ Karl schaute ihn entgeistert an. „Das war doch nur Spaß. Komm jetzt!“

Doch Anton blieb stehen. „Nein. Wettschulden sind Ehrenschulden. Wir hatten gewettet.“

„Kinder kommt jetzt. Kommt!“ Die Mutter schrie und schrie. „Ich will nicht, dass heute jemand aus meiner Familie stirbt! Sofort her mit Euch!“

Da war schon ein unheimliches Grollen zu hören und der Himmel verfinsterte sich. „Komm, wir rennen schnell beide rüber!“, sagte Karl und deutete auf die rund 80 Meter entfernte Flak, an der schon Soldaten hektisch hantierten und testweise das Kanonenrohr links und rechts und hoch und runter über die Sandsäcke schwingen ließen. „Munition! Munition!“ Wir brauchen mehr Munition!“, schrie ein Soldat. „Und Planen! Dieser verdammte Regen!“

„Also?“ Karl schaute seinen Bruder Anton fragend an. Dann schrie er einfach drauf los: „Start frei!“

Karl spurtete durch den Regen los, so schnell er konnte. Er wusste, dass Anton mindestens genauso schnell war wie er. Und manchmal sogar noch schneller, der kleine Hasenfuß. Besonders wenn er Angst hatte. Karl rannte über das kleine Feld und durch die Ludwigstraße hoch zur Flak, während ihm immer mehr Leute entgegenkamen. Immer näher kam die gewaltige Kanone. Plötzlich sah er links, wie Peter und Maria Hauser mit ihren fünf Kindern schnell in ihre Scheune rannten. Die Kleinen schrien und schrien, als sie von ihrem Vater hinter das hölzerne Tor gerissen wurden. Mit bangem Blick schaute Maria Hauser, die eine gute Freundin seiner Mutter war, ihn an und schüttelte den Kopf. Dann schloss sie schnell den oberen Teil der Holztür. Karl rannte und rannte und dann, nach weiteren 30 Metern, berührte er endlich einen Sandsack. „Erster!“ Schwer atmend schaute er sich hektisch um. Wo war Anton?

Doch Anton war gar nicht mitgerannt, er war ihm noch nicht einmal gefolgt. Erschrocken sah Karl, dass sein Bruder ängstlich bei seiner Mutter stand, direkt vor dem Kellereingang. Sie hatte einen Arm um ihm gelegt und wedelte panisch herüber. Anton zuckte entschuldigend mit den Achseln.

Dann hörten sie plötzlich die erste gewaltige Explosion. Ein Wachmann, der aus dem Keller gestürmt kam, schrie wütend auf Lieselotte ein und zog die Mutter an sich vorbei die Treppe hinab. Kurz bevor er den Jungen, der mit Tränen in den Augen eine Hand nach seinem geliebten Bruder ausgestreckt hatte, am Kragen packen konnte, sah Anton noch, wie Karl erstarrt neben der feuerspeienden Flak im prasselnden Regen stand. Karl blickte in seine Richtung, er schien noch einmal zu lächeln und wie zum Abschied zu winken und irgendetwas zu rufen. Dann sah Anton einen schwarzen Schatten vorbeihuschen, und Karl war vom Erdboden verschluckt.

Anton spürte nur noch, wie plötzlich eine gewaltige Druckwelle die Stahltür zuknallte und er mit dem Wachmann die Treppe hinabfiel.

Dann war alles dunkel.

Köln, heute

Bombensprengung in Braunsfeld. Wenn Entschärfen nicht mehr geht, dann muss kontrolliert gesprengt werden. Stundenlange Absperrungen gab`s. Die Anwohner und Autofahrer mussten heute viel Geduld aufbringen…“

Routiniert las die Nachrichtensprecherin der WDR-Lokalzeit Köln die Anmoderation vor. Über die Mattscheibe, die noch auf dem Parkettboden an der Wand lehnte, flimmerten die ewig gleichen Bilder. Schon wieder ein Blindgänger in Köln. Wieder die Stadt im Stau, Polizisten und Ordnungsamt vor Flatterband, genervte Anwohner. Dann ein kurzer Blick auf einen gewaltigen Sandhaufen, unter dem die Bombe steckte.

Mond fluchte, knipste den Fernseher aus und warf die Fernbedienung auf seine alte Ledercouch, die teilweise noch in Plastikplanen gehüllt war. Immer diese verdammten Bomben, dachte Mond. Fast jede Woche war in Köln Bombenalarm. Mal irgendwo neben einem Krankenhaus, mal auf einer Großbaustelle in der Innenstadt, neulich sogar mal auf einem Friedhof.

Aber dieser Blindgänger, der heute wieder tausende Bürger auf Trab gehalten und den eine Stadtsprecherin zuvor noch als „ein bisschen tricky“ verniedlicht hatte, weil er wegen eines defekten Langzeitzünders nicht einfach mal eben hatte entschärft werden können, lag inzwischen zersplittert unter drei Lkw-Fuhren Sand, vermischt und beschwert mit 48.000 Litern Wasser.

Eine Bombe, die fast 80 Jahre im Boden schlummerte, entfaltet immer noch eine ungeahnte Sprengkraft, grübelte Mond vor sich hin. Die einen kamen zu spät zur Arbeit oder zum Arzt, bei Lieferdiensten wurde das Essen kalt, andere rannten aus dem Bus und urinierten in Hecken, sicher streunten auch jede Menge Katzen und Hunde aufgeregt durch die Wohnungen der evakuierten Häuser. Und was tat sich bei ihm?

Durch das Bomben-Chaos und die betroffenen KVB-Linien war auch Natja viel zu spät nach Hause gekommen. Nach Hause? Also eigentlich eher in das Haus, was einmal ihr neues Zuhause werden sollte. Er hatte gute zwei Stunden gewartet, was ihm aber nicht ungelegen kam. So hatte er einen guten Grund, seinen Kummer zumindest etwas zu ertränken. Eine neue Flasche Jameson zu öffnen und ein paar Gläser in sich hineinzuschütten.

Das hatte seinen Puls beruhigt – und seinen Schmerz, der aber sofort wieder in sein Herz stach, als er sah, wie nun  seine Frau, also eigentlich fast schon Ex-Frau, zusammen mit Melody, die ja wenigstens für immer seine Tochter blieb, einige Reisetaschen unter die Motorhaube und auf die Rücksitzbank stopfte.

Sein alter silberner Porsche, sein ganzer Stolz früherer Tage, stand nun bereit, um mit seinem Leben zu verschwinden. Mit den zwei Menschen, die er am meisten liebte – und mit vielen Erinnerungen im Gepäck.

Heimlich wünschte sich Mond, als er vor die Tür ging, dass der Wagen jetzt endlich mal eine Panne hatte, wenn er sie brauchte. Dass er einmal nicht ansprang, wenn er es wollte. Doch seit der letzten Inspektion, die ein komplettes Monatsgehalt verschlungen hatte, war das gute alte Teil perfekt wieder in Schuss.

Natja stieg ein und drehte mit ihrer linken Hand, an deren Ringfinger nur noch ein dünner kahler Streifen war, den Zündschlüssel. Der Motor sprang an, heulte und röhrte auf und blubberte vor sich hin.  „Das war’s dann also“, sagte Mond mit stockender Stimme, als er an den Sportwagen herantrat.

„Ja, es hätte so schön werden können. Neues Haus, neues Glück. Aber du mit deiner verdammten Elf hast es versaut“, sagte Natja, knallte die Tür zu und schaute ihn durch das geöffnete Fenster eiskalt an. „Wieder mal. Aber diesmal für immer.“

Plötzlich spürte Mond, wie sich seine Tochter an ihn schmiss und ihn ganz fest umklammerte. „Mach’s gut Papa. Unsere neue Wohnung ist ja nicht weit weg. Vielleicht wird ja doch noch alles gut, Papa. Denn…“

„Wenn es am Ende nicht gut ist, ist es noch lange nicht…“

„…das Ende“, lächelte Melody und gab Mond einen Kuss.

„Spar dir deine Kalendersprüche und kümmere dich lieber bald mal um den Unterhalt! Die Karre hier wird sonst als erstes verkauft“, sagte Natja wütend. Sie ließ den Motor aufheulen und gab Gas. Das Fenster schloss sich. Der Wagen bog langsam aus der Ausfahrt und erreichte die noch in Bau befindliche Schotterstraße.

„Tschüss Frau. Tschüss Kind. Tschüss Porsche“, rief ihnen Mond leise hinterher. „Tschüss… Carlo?“ Er schaute sich hektisch um und sah die geöffnete Haustür.

„Nein, nicht auch noch Carlo!“ schrie er dem Porsche hinterher. Da surrte das Fenster auf der Fahrerseite erneut runter. Seine Frau hielt die kleine schwarz-grau getigerte Katze in der Hand und streckte sie triumphierend in die Luft.

„Du bist doch ehe ein Einzelgänger. Bei dir würde er nur verhungern!“, hörte er sie rufen. Dann gab sie Gas und der Porsche war verschwunden. Mond schaute traurig ins Nichts. Er tastete seine Jeans ab, fand seinen Flachmann und begann, in großen und gierigen Schlucken zu trinken. Er hasste sich dafür. Aber er wusste keinen anderen Ausweg.

Regentropfen landeten auf seinem Nacken. Mond drehte sich um und sah den jungen Ahornbaum, der vor seinem Haus an die Straße gepflanzt worden war, um zumindest etwas Natur zwischen den würfelförmigen weißen Betonbauten vorzugaukeln. Ansatzlos schlug er einen rechten Haken gegen den Stamm. Der Baum zitterte kurz und ließ ein paar welke Blätter auf ihn herabregnen. Es war Anfang Herbst, und die Bäume, so dachte Mond, verlieren jetzt ihre Blätter so wie er seine Krone, die ihm mal zu dem gemacht hatte, was er gewesen war: ein erfolgreicher Reporter und glücklicher Familienvater. Jetzt war das alles vorbei. Er fühlte sich selbst wie ein kahler schwacher Baum im Wind. Mein Gott, wirkt der Whisky schon? Mond knallte die Haustür zu und schenkte sich noch ein Glas ein.

Dicke Wolken und der einsetzende Regen tauchten die noch im Aufbau befindliche Siedlung plötzlich in eine unheimliche Dunkelheit. In immer mehr Einfamilienhäusern, viele hatten noch keine Zufahrt, andere noch nicht mal eine Hausnummer, gingen schnell Lichter an. Möbelpacker beeilten sich, Kisten und Tische und Stühle und Lampen in die Häuser zu bringen. Mond zog sich müde die Treppe hoch. Im ersten Stock hatte er sein Arbeitszimmer und sein Schlafzimmer eingerichtet. Er sah aus seinem Fenster, wie einige neue Nachbarn aufgeregt ihre Auflagen von den Sesseln und Liegen in die Garage brachten und die Markisen einfahren ließen. Kinder rannten ins Haus und ließen in den Sandkästen ihre Schaufeln und Formen zurück.

Bei seinem Nachbarn gegenüber, der neben dem Haus für seinen Sohn einen Pool im Garten aufgebaut hatte, um die letzten warmen Tage des Jahres, die hoffentlich noch kommen sollten, zu genießen, bildete der Regen auf dem neuen Rollrasen kleine Pfützen.

Mond schaute über den Garten und auf das große Baufeld dahinter. Seine Augen fielen auf eine Grube, die Platz für ein halbes Fußballfeld hatte und etwa fünf Meter tief war. Mittendrin stand der Fuß eines Krans, drumherum parkten Bagger, die die Grube weiter ausschachten sollten. Doch jetzt saßen wegen des schlechten Wetters alle Arbeiter in den Containern oberhalb der Baustelle.

Ein offenes Fenster, etwa 70, 80 Meter entfernt, mit einem grauen Vorhang erregte Monds Aufmerksamkeit. Das Fenster gehörte zu einem alten, verkommenen, kleinen Haus, das als einziges noch den Neubauten trotzte. Offenbar der einzige Eigentümer, der nicht an den neuen Bauträger verkauft hatte, dachte Mond. Irgendein Immobilienmogul hatte nach und nach alle alten Häuser erworben und plattgemacht, um hier Raum für Neues zu schaffen. Oder wie er es plakatierte: „Veedel für Zukunft“.

Mond wollte an seinem Glas nippen, als er innehielt. Plötzlich kam ein hagerer Mann hinter den zerschlissenen Stoffbahnen zum Vorschein. Sein Gesicht, das konnte Mond auch auf diese Entfernung sehen, war von Falten zerfurcht. Seine Haare waren schlohweiß und lang und wehten im Wind. Er trug nur ein graues Unterhemd, aus dem dünne, sehnige Arme hingen, die sich nun auf das Fensterbrett lehnten.

Sein Blick wanderte lange über das Baufeld, hin und her, nach oben und unten, so als ob er etwas suchen und finden müsste. Und plötzlich schaute er Mond direkt ins Gesicht. Die Augen des alten Mannes funkelten und fixierten Mond, der fasziniert, aber auch leicht angewidert über sein Glas schauend dem Blick standhielt.

Dann war der Mann verschwunden. Mond sah nur noch, wie eine Hand mit langen zittrigen Fingern das Fenster schloss, dessen Scheiben schnell von Regentropfen benetzt waren. Dann war alles wieder gespenstisch grau.

Wer weiß schon genau, wer seine Nachbarn sind und welche Geschichte der Grund und Boden hat, dachte Mond. Und erinnerte sich daran, dass er vor einigen Wochen eine Mail an das Stadtarchiv geschickt hatte, natürlich direkt an die oberste Chefin, um die Vorgeschichte von Rheinshof zu erfahren und von dem Stück Land, auf dem nun die Siedlung gebaut wird und auf dem er in Zukunft leben würde.

Mond kratzte sich an seinem Stoppelbart. Ja, eine Antwort hatte er darauf nie erhalten. Seltsam eigentlich, wie ihm nun auffiel. Da brummte es auf dem Schreibtisch, sein Handy vibrierte und tanzte immer weiter Richtung Tischkante.

Als Mond genervt auf das blinkende Display schaute und die letzten vier Ziffern 0110 erkannte, krampfte sich sein Magen zusammen. Der Anruf kam von seinem Brötchengeber, dem „Feinemann Verlag“, aus dem Vorzimmer der Geschäftsführerin Klammer, jetzt CEO. Mond wusste: Wenn er ranging, war er dem Anruf mit all seinen Konsequenzen ausgeliefert. Wenn er es einfach klingeln ließ, würde er sich feige vorkommen, und die Ungewissheit darüber, warum seine Chefin, mit der er noch nie ein nettes Wort gewechselte hatte, ihn sprechen wollte, würde ihn zermürben. Bis zum nächsten Klingeln.

Das Handy drohte, jeden Moment vom Tisch zu fallen. Mond nahm all seinen Mut zusammen, gönnte sich noch einen tiefen Schluck Whisky und drückte auf das Display.

Szenenwechsel

Die Luft in der U-Bahn-Linie 16, die sich kreischend durch die von Graffiti vollgeschmierten, staubigen Tunnel ihren Weg bahnte, war muffig. Alle Plätze waren besetzt, viele Leute hielten sich schwankend an Stangen und Gummischlaufen fest. Zwischendrin versperrten Fahrräder und Trolleys von Touristen den Weg. Eine Wolke billiges Parfüm waberte Mond in die Nase. Er drehte sich um und sah zwei grell geschminkte Blondinen, vielleicht Anfang 20, aber wer konnte das schon genau wissen, die mit langen Fingernägeln über ihre Handys wischten. Ihnen gegenüber saßen zwei Jungs, tuschelten und starrten sie an.

Wahrscheinlich wieder zwei Influencerinnen, die halbnackt mit ihren weichgezeichneten Filterfotos den kleinen Kerlen feuchte Träume bescheren, dachte Mond. Aber auch ich bräuchte mal so einen Gesichtsfilter, ging es ihm durch den Kopf, als er sein unscharfes Spiegelbild in der U-Bahn-Tür sah. Seine schwarzen Haare wurden dünner und grau, seine Wangen hatten tiefe Furchen. Er sah einfach nur noch verbraucht aus und fühlte sich auch so. Ausgenutzt, verschlissen, verlebt. Verlassen, von Frau und Kind. Und dem, was man Glück nannte. Ja, dachte er. Seine Frau hat Recht. Er war ein verdammter Einzelgänger.

Mond ballte die Fäuste. Sein Spiegelbild in der Dunkelheit verschwand, die Bahn rauschte in die grelle und überfüllte Haltestelle Neumarkt. Mit einem zischenden Knall sprangen die Türen auf, und Mond schob sich im Gedrängel auf den Bahnsteig durch die Leute hindurch und immer weiter durch die Massen auf einer verdreckten Rolltreppe aus dem Untergrund hoch ins trübe Tageslicht.

Er kannte die Ecke. Gleich würden wieder reihenweise Junkies auf ihn zustolpern und um ein paar Euros für den nächsten Schuss betteln. Er würde wieder über arme Kreaturen steigen, die auf dem Boden lagen, und sich an der Ecke des Platzes, wo es nach Urin und Erbrochenem stank, den Kragen seines Jacketts vor die Nase halten müssen.

Hinter dem qualmenden Döner-Grill und der kleinen Kaffeebar erreichte er den Feinemann-Verlag. Das Unternehmen, das sich damit rühmte, im Herzen der Stadt und damit am Puls der Zeit zu sein. Doch nicht nur für Mond war das berühmte Herz der Stadt ein hartes, oft brutales und gelegentlich abstoßendes Pflaster geworden. Und der Puls der Zeit tickte so schnell und schrill, dass sich die Menschen in der Hektik und im Stress des Alltags verloren und leer fühlten und nur noch raus wollten aus dem immer schwerer zu drehenden Hamsterrad, das sich Leben nannte.

Mond schaute hoch auf die graue Fassade mit ihren verspiegelten Fenstern und sah ganz oben, auf dem Dach des 20. Stockwerks, die leuchtend grüne und riesige Flagge des Verlags wehen. Daneben hing eine inzwischen nostalgisch anmutende Leuchtreklame mit der immer mehr in Vergessenheit geratenen Botschaft an die Leser und Leserinnen der 1949 gegründeten Zeitung: „Köln hat den Blick“.

Mit seiner gezückten Mitarbeiterkarte kam Mond durch die gepanzerte Tür, vorbei am freundlich nickenden Pförtner, und betrat die Lobby, in der an den Wänden grelle Videowände in Kinogröße die neuesten Nachrichten aus aller Welt, Clips aus der Promi-Szene und die Top 10 der meistgeklickten Artikel des heutigen Tages zeigten.

Helene Fischer räumte wieder gnadenlos ab. Ihr Dekolleté, das beim Stolpern auf einem Roten Teppich ungeahnte Einblicke erlaubt hatte, ließ mit weit über 100.000 Klicks die neuesten Transfer-Gerüchte beim 1.FC Köln alt aussehen. Die hatten gerade mal 30.000 Klicks, ein heftiger Zoff im Rathaus, der überall in den Zeitungen auf dem Titel war, landete immerhin noch unter den besten zehn, wenn auch heute nur mit schlappen 4.500 Klicks. Es war Monds letzte Geschichte, die die Online-Redaktion seit Tagen in veränderten Überschriften ausspielte, um sie immer wieder neu aussehen zu lassen.

Im Sekundentakt leuchtete penetrant in 3D-Optik und mit einem rauschenden Sound unterlegt auf einem hochkantigen Monitor Werbung auf: „Klick Blick! Klick Blick!“

Mond grüßte kurz einen deprimiert dreinschauenden Fotografen, der für alle unerwartet, und für ihn besonders überraschend schnell in den Ruhestand geschickt wurde und ihm noch sarkastisch „Viel Glück, Alter! Hier sind nur noch Abrissbagger unterwegs!“ hinterher rief, als sich schon die Tür des gläsernen Fahrstuhls schloss. Da zwängte sich das aufgestylte Blondinen-Duo, das Mond eben noch in der U-Bahn gesehen, gerochen, genervt hatte, in den Lift.

„Zwanzigster müssen wa?“, fragte die eine mit schriller Stimme. „Yes, Baby! Zwanzigster!“, sagte die andere Kaugummi kauend und drückte mit ihren klackernden Fingernägeln auf den obersten Knopf.

Die Tür schloss sich, Mond hielt den Atem an und der Aufzug schoss rasend schnell los.

Weiter mit Kapitel 2: „Sandmann“